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Ulrike Richter

Nr 139 | Juli 2011

Genuss kann auch gesund sein

Ernährung war für mich früher kein Thema. Essen sehr wohl. Ich ernährte mich bis zum siebzehnten Lebensjahr wie meine Familie, meine Freunde, die Nachbarn und später auch wie meine Arbeitskollegen in der Werkskantine. Ich aß, was auf den Tisch kam, blieb schlank und fit und machte mir über mein Essverhalten kaum Gedanken.
Dann kam die Krankheit. Wie ein Wurm fraß sich die Schuppen­flechte durch Hautschichten und hinterließ eine schrecklich juckende Spur. Ich kratze und rieb die nässenden Wunden mit Salben ein. Nichts half. Durch Zufall kam ich in die Hände eines anthroposophischen Arztes – eine Seltenheit in jenen Zeiten. Fortan eröffnete sich mir eine völlig neue Sicht von Welt.
Anstatt mit Kortisonsalbe, wurden die nässenden Hautpartien – jetzt kaum noch äußerlich vorhanden – mit Hamamelis behandelt. Dafür musste ich auch meine komplette Ernährung umstellen. Statt Kotelett mit Kartoffelsalat und Spaghetti Bolognese gab es Vollkorn­pizza, Buchweizenpfannkuchen, Falafel aus Kichererbsenmehl oder bunte Gemüseeintöpfe auf Getreidebasis. Fleisch gab es nur noch selten, dafür jede Menge Hülsenfrüchte aller Couleur. Die Rezepte waren so einfach wie lecker und bereicherten den Speiseplan und mein Leben. – Was ich im ersten Moment als Verlust von Lebensqualität einstufen wollte, entpuppte sich als großer Gewinn für Körper, Geist und Seele. Ich begann, mich in meiner Haut wohlzufühlen. Heute finde ich es überhaupt nicht mehr «schlimm», wenn ich keine Grillbrat­wurst verspeise (was ich sicherlich in Ausnahmen genießen kann). Im Gegenteil, allein der Geruch will mir nicht gefallen, erscheint mir aufdringlich, wie ein Gongschlag ins olfaktorische System. Dafür bereichert nun eine unglaubliche Vielfalt an Lebensmitteln meinen Speiseplan, um die Geruchs- und Geschmackswelt über die gesamte Klaviatur zu verwöhnen: mit sich potenzierendem Genuss. Die kreativen Vollwert-Schlemmereien bekamen mir auch gesundheitlich auffallend gut. Ich war schon ein paar Monate nach meiner Ernährungsumstellung völlig frei von lästigen Beschwerden und bin es bis heute. Auch das unangenehme «Bauchgrummeln» hatte sich verflüchtigt – allen Böhnchen zum Trotze. Mir wurde klar, wo der Hase im Pfeffer liegt. Alle schreien nach Genuss und Lebensfreude, um wenig später die Geschmackssinne massiv zu drangsalieren. Es geht – um im musikalischen Vergleich zu bleiben – nicht um die feinen Töne, sondern erfolgreich ist der, der am lautesten dröhnt.
Und schon sind wir mitten im Geschehen. Welche Gründe führen dazu, dass wir selbst im Elementarbedürfnis Ernährung den Fan­faren und Pauken folgen, besonders, wenn der Rabatz uns krank macht? Warum kaufen und essen wir Dinge, die uns krank machen? Aber noch spannender ist die Frage, warum immer weniger Menschen die Verantwortung für eine gesunde Ernährung überhaupt übernehmen wollen. Wer oder was hat die gesamte Geschichte der Menschheit geknickt? Immerhin ist Ernährung ein zentrales Thema, besonders weil Geschichte viel Hunger und Not kennt. Und überhaupt: Wie kann eine moderne und freigeistige Gesellschaft eine private Kochkultur entwickeln? War nicht gerade die Abwendung vom Herd die Revolution?
Es gibt Spannungsbögen, die einem manchmal den Appetit ver­derben, aber sicher nicht die Lust auf einen gesunden Genuss. Manchmal muss man den Weg gewiesen bekommen – klein, fein, über Zeichen und Sinnlichkeiten stolpern und hüpfen, wie über einen Ernährungs-Erlebnispfad. Apropos: Wander-Weg-Karten gibt’s im Buchhandel. Die Fahrschule Ernährung* auch, in der ich über das hier nur Angedeutet ausführlicher schreibe … Alles Gute! Seien Sie gesund und munter.