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Man muss noch Chaos in sich haben

Jean-Claude Lin

Nr 140 | August 2011

Im Jahr des 200. Todestages Heinrich von Kleists widmet sich das Deutsche Literatur Archiv in Marbach am Neckar nicht dem tragischen Dichter der «Penthesilea» und des «Prinzen Friedrich von Homburg» – da werden andere bevorzugte Orte sich hervortun –, sondern einem ihm nahegehenden Hauptmotiv seines allzu kurzen Lebens und Schreibens: dem Schicksal.
«Allein, wie macht man jenseits der Bühne, die dafür geschaffen scheint, ein Schicksal sichtbar?», schreibt Ulrich Raulff in der Einleitung zum 135. Band des marbachermagazins, der die Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne begleitet. Er und seine Mitkuratorinnen, Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter, haben sich bemüht, «Dinge zu finden, in denen sich ein Schicksal spiegelt: Manuskripte, die noch von seinem Blitz geschwärzt sind, Texte, über denen Autor und Leser zerbrochen sind. Bücher, dank denen einer überlebt hat, Fragmente, an denen ein anderer gescheitert ist.»
In einem abgedunkelten Raum, in sieben kreisförmigen, großen, waagerechten schwarzen Vitrinen mit wiederum kreisförmigen Aussparungen zum Durchblick sind die von oben angestrahlten «Sieben mal sieben unhintergehbaren Dinge» des Schicksals ausgestellt. In sieben Kategorien sind sie eingeteilt, gleich sieben Beugungen des dunklen Lichtstrahls Schicksal: 1. Zahlen, 2. Sterne, 3. Stimme, 4. Fügung, 5. Zeichen, 6. Wende, 7. Fäden.
An einem Donnerstag kam ich hin und wurde gleich beim ersten Exponat, einem aufgeschlagenen Taschenkalender Gottfried Benns und seinem begleitenden Text, darauf aufmerksam: «Donnerstag, also Zanktag. Der Donnerstag war immer ein kritischer Tag bei uns», schreibt Gottfried Benn an seine Freundin Ilse Ziebarth 1954. «Bis heute ist mir zumindest das Wort Donnerstag noch nicht sympathisch. Er bezeichnet den Tag des ziemlich rüden Gottes Thor und hat folglich mit Donner zu tun. Dagegen liebe ich den Freitag, besonders, wenn es ein Freitag, der 13. ist.»
Beim dritten Exponat hätte Benn vielleicht bewusst werden können, dass der Donnerstag auch mit Jupiter (wie im Französischen jeudi) zu tun hat. Der Kulturhistoriker Aby Warburg notierte auf einem Zettel das 4 x 4 «magische» Zahlenquadrat, das auf Albrecht Dürers Kupferstich Melancolia 1 unter einer Glocke und neben einer Sanduhr an der Wand hängt. «Magisch» wird das Quadrat genannt, weil die Zahlenreihen vertikal, horizontal und diagonal jeweils 34, in der Quersumme 7 ergeben. Und die Herausgeber weisen darauf hin, dass in der antiken und arabischen Numerologie die 34 Jupiter zugeordnet ist. Aby Warburg deutete die Zahlenkonstellation als «magisches Bild des Glücksgottes Jupiter und damit als Mittel gegen die von seinem Vater Saturn ausgelöste Melancholie.»
«Der Mensch kann», heißt es weiter, «durch bildhafte An­eignung der Himmelsmächte sein Schicksal unter eine günstige Konjunktion stellen.» Ich bin dabei schon sehr glücklich, denn neben den von den Ausstellungsverantwortlichen ge­nannten 4 vertikalen, 4 waage­rechten und 2 diagonalen Zahlen­reihen, entdecke ich in dem Quadrat weitere 10 geordnete Zahlenkombinationen à 4 Zahlen von 1 bis 16, die zusammen addiert 34 ergeben. Donnerstag – ein Tag der Überschau und der Ordnung!
Jeder wird in dieser Ausstellung etwas finden, was einen tieferen Einblick ermöglicht in die oft verborgenen Zusammenhänge des Lebens. Lange blieb ich bei dem 20. Exponat stehen, den 13 un­veröffentlichten Tagebüchern aus den Jahren 1976 – 86 von Peter Sloterdijk mit dem Hinweis aus seinem Essay Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben: «Liefere dich Prüfungen aus! Lege Deine Akte an. Sammle Hinweise, die verstehen lassen, dass es dich geben musste. Setze dich selbst, bringe dein Thema zum Zuge!»
«Schicksal und Heiterkeit, das will sich nicht reimen, jedenfalls nicht im Deutschen», schreibt Ulrich Raulff in seiner erwähnten Einleitung. Aber aus dem dunklen Thema hat er mit seinen beiden Mitkuratorinnen eine sinnige, heitere Ausstellung gestaltet.