Mark Riklin im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Mehr Zeit, mehr Glück?

Nr 143 | November 2011

Zumindest ab und zu wünscht sich wohl jeder Erwachsene in unseren Breitengraden mehr Zeit, auch wenn die Zeit das Gut ist, das, gemessen mit dem Gleichheitsmaßstab, am gerechtesten verteilt ist: Jeder hat 24 Stunden Zeit pro Tag. Und jeder wünscht sich Glück, weiß aber aus Erfahrung: Glück ist vergänglich. Der Schweizer Sozialwissenschaftler Mark Riklin hat beides zu seinem Lebens- und Berufsthema gemacht, indem er 2003 die «Meldestelle für Glücksmomente» gründete und seit 2006 ehrenamtlicher Schweizer Landesvertreter des «Vereins zur Verzögerung der Zeit» ist. Und die Zeit- und Glückssuche spielt auch bei einem dritten Projekt eine Rolle: Gemeinsam mit Studierenden der Fachhochschule St.Gallen und der Dozentin Selina Ingold verwandelte Mark Riklin die Stadt Rorschach am Bodensee mit den Ämtern des «Schatzsuchers», des «Glöckners» und manch anderer mehr oder weniger skurrilen Idee in eine lebendige Bühne, wie das Praxisbuch «Stadt als Bühne» anschaulich dokumentiert. Also weiß er einen Weg für uns, mehr Zeit, mehr Glück zu erhaschen?

Doris Kleinau-Metzler | Herr Riklin, «Verein zur Verzögerung der Zeit» – da fragt man sich, wie dieses Zauberkunststück wohl gehen mag, die Zeit zu verzögern!?

Mark Riklin | Der Name unseres Vereins löst gleich mehrere Miss­verständnisse aus, und dies durchaus gewollt. Natürlich lässt sich Zeit nur in beschränktem Maße verzögern, aber die Vorstellung davon irritiert – wie jetzt bei Ihnen – und provoziert eine Frage. Erst mit Innehalten und Nachdenken kann etwas Neues beginnen: Ein Bewusstsein für einen sinnvollen und kreativen Umgang mit unserer Zeit. Genau das ist das Anliegen des Vereins, der 1990 an der Universität Klagenfurt gegründet wurde und inzwischen ein Netzwerk von 700 Zeit-Interessierten und Engagierten aus unterschiedlichen Fachgebieten (vom Komiker bis zum Professor) im deutschsprachigen Raum ist.

DKM | Auch Michael Endes Roman Momo bezieht sich mit den grauen Herren von der Zeitsparkasse auf dieses Gefühl. Warum spricht uns die Idee der Zeitverzögerung überhaupt an?

MR | | Unsere Gesellschaft scheint einem geheimen Prinzip zu unterliegen, das lautet: Schneller, größer, mehr! Um Zeit zu sparen, wurden und werden immer mehr Erfindungen gemacht und weiter verbessert, von Management- und Medienstrukturen, Verkehrsver­bindungen bis zu Fitness- und Haushaltsgeräten. Das Paradoxe daran ist, dass wir trotzdem immer weniger Zeit haben! Viele erleben das besonders intensiv in der Arbeitswelt, wo in immer weniger Zeit immer noch mehr getan werden muss. Dieser ständige Druck macht Menschen anfällig für Krankheiten, sie fühlen sich ausgepresst wie eine Zitrone. Im Bildungs- und Schulbereich ist es ähnlich: Die Lehrpläne werden immer voller, die selbstbestimmte und freie Zeit von Kindern und Jugendlichen immer weniger – als ob es bei Erziehung und Bildung um das Füllen von Fässern ginge. Leider wird vor allem auswendig statt inwendig gelernt; dabei weiß fast jeder aus eigener Erfahrung, dass viel und schnell aufgehäuftes Wissen bald vergessen wird.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

DKM | Zu Arbeit und Schule kommen heute ja noch Termine in der Freizeit, um Freunde zu treffen, sich fit zu halten, zu informieren ...

MR | | Ja, das Problem ist, dass auch die Frei-Zeit durch diese Termine nicht wirklich frei ist, sondern getaktet, eingeteilt nach Stundeneinheiten. Dieses Durchplanen unserer Zeit führt zum Gefühl, nie genug Zeit zu haben. Menschen, die aus dem System herausfallen, weil sie arbeitslos, krank oder alt sind, haben wohl mehr Zeit zur freien Verfügung, erleben aber oft, dass sie nicht lernen konnten, selbstständig mit ihrer Zeit und Energie umzugehen. Unsere Gesellschaft teilt sich immer mehr in die einen, die zu wenig Zeit haben und ausbrennen (Burn-Out), und die anderen, die zu viel Zeit haben, unterfordert sind und sich langweilen (Bore-Out). Hinter Burn-Out steht auch häufig das Auseinanderklaffen von hohen Fähigkeiten und niedrigen, starren Anforderungen.

DKM | Nicht die Arbeit als solche belastet also, sondern eine als sinnlos und ohne Atempause ablaufende Arbeit. Aber manche Lebens­bedingungen können wir als Einzelne nicht so schnell ändern. Haben Sie Tipps, wie man mit seiner Zeit besser umgehen kann?

MR | Als Erstes scheint mir wichtig, sich selber zu beobachten, wie man seine Zeit verbringt; man könnte Buch darüber führen, was man an einem Tag macht, auch registrieren, welche Energie die jeweilige Tätigkeit erfordert. Man sieht dann vielleicht, dass man eine Arbeit, die geistige Energie erfordert, besser zu einem anderen Zeitpunkt erledigt. Um sich der Zeit bewusst zu werden, ist es gut, das Tempo zu verlangsamen, sich als Übung beispielsweise im Falschhandessen zu versuchen (statt mit der rechten Hand isst man mit der linken Hand). Auch das Reduzieren gehört dazu, denn viele Menschen machen einfach zu viel, sowohl in der Arbeit als auch in der Freizeit. Mal nur eine Sache tun, Mono-Tasking, gibt ein anderes Gefühl für die Qualität dessen, was man tut. Zudem helfen selbst erfundene Rituale, damit das, was man besonders wertschätzt, im Alltagsstress nicht untergeht. Menschen mit vollen Termin­kalendern könnten täglich Zeiten der Unerreichbarkeit festlegen, am Anfang des Jahres Joker-Tage einplanen und einzelne Tage im Terminkalender herausreißen – um dann vielleicht von den vielen unerledigten Dingen eine Sache herauszugreifen, die einem besonders wichtig erscheint.

DKM | Besser mit der Zeit umzugehen, bieten viele Ratgeber­bücher und Seminare an ...

MR | Ich weiß. Aber mir, dem «Verein zur Verzögerung der Zeit», geht es gerade nicht darum, wie ich meine Zeit noch besser und effektiver (aus)nutze, sondern im Gegenteil: Wie komme ich dazu, das zu tun, was mir wirklich wichtig ist? Dazu gehört, eigene Akzente zu setzen und den persönlichen, mehr oder weniger kleinen oder großen Gestaltungsspielraum auszuloten und Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. Ein Lernprozess, der für mich noch in vollem Gange ist, bin ich doch erst auf der zweiten von zehn Stufen angelangt. Immer wieder falle ich zurück, tappe in Zeitfallen.

DKM | Das überrascht mich!

MR | Ja, das Gemeinsame der unterschiedlichen Mitglieder beim «Verein zur Verzögerung der Zeit» ist zu unserer eigenen Über­raschung, dass wir alle fast keine Zeit haben (lacht). Falls ich irgendwann Stufe sechs oder sieben erreiche, werde ich aus dem Verein austreten – dann bin ich ein Stück erwachsen geworden, was meinen Umgang mit Zeit betrifft ... Nur über das Bewusstwerden, das Wahrnehmen der eigenen Situation, kann ich etwas verändern. Auch beim Projekt «Stadt als Bühne» mit der Fachhochschule für Soziale Arbeit St. Gallen steht dieser Prozess hinter den meisten Aktionen: So hat die Stadt Rorschach die Stelle eines städtischen «Schatz­suchers» ausgeschrieben und 37 Bewerbungen für diese 10-Prozent-Stelle erhalten – wohl ein Traumjob für viele; der Schatzsucher hilft als eine Art positiver Detektiv, verschüttete oder noch verborgene Schätze aufzuspüren und sichtbar zu machen. Allein schon sein Da-Sein macht Menschen darauf aufmerksam, vermehrt auf das zu achten, was ihnen in der Stadt wichtig sein könnte. Oder der «Glöckner», ein wieder eingeführtes Ehrenamt, das seit einem Jahr von 17 Frauen und Männern abwechselnd ausgeübt wird: Täglich um 11 und 18 Uhr werden die Glocken des Jakobsbrunnens nicht mehr elektronisch, sondern von Hand geläutet. Menschen halten inne, wenn sie das Läuten hören. Das bewusste Wahrnehmen der Zeit durch die Glockenschläge ist eine Art Verzögerung der Zeit.

DKM | Schon dieses Buch Stadt als Bühne ist ja eine Art aktives Entdeckerbuch. Man muss einzelne Seiten aufreißen.

MR | Ja, es ist japanisch gebunden, die Seiten sind perforiert. Wenn man die Seiten aufschneidet oder mit dem Finger durchfährt, öffnet sich der Vorhang und man kann sozusagen hinter die Kulissen schauen. Viele Städte haben heute das Problem, dass sich die Bürger zurückziehen, obwohl sie viel Zeit in ihrer Stadt verbringen. Die Stadtplanung hat die Bebauung geregelt, die Identität aber, die Zugehörigkeit der Bürger zu ihrer Stadt, hat das oft nicht gefördert. Stadt als Bühne heißt, dass auch eine Art «Schule der Wahrnehmung» entsteht, denn die Perspektive auf den Lebensraum Stadt wird verändert. Wir haben versucht, mit einfachen Mitteln die Lebensqualität der Menschen zu erhöhen, das Sinnliche hervorzulocken – einfach für Augenblicke ein Lächeln auf die Gesichter der Menschen zu zaubern, sei es mit dem Fahrstuhlsprecher oder der Bettflaschenkurierin, die Sitzflächen im öffentlichen Raum enteiste und erwärmte.

DKM | Könnte das, was man da erleben konnte, etwas sein, was man bei Ihrer «Meldestelle für Glücksmomente» meldet, Herr Riklin? Wie kamen Sie auf die Idee der Meldestelle?

MR | Jedes Lächeln, das einen beglückt, kann ein Meldefall sein. Die Idee für die «Meldestelle für Glücksmomente» entstand aus der Beobachtung heraus, dass Negatives viel häufiger ausgesprochen wird als Positives. Statt nur darüber zu klagen, rief ich die Meldestelle für Glücksmomente ins Leben. Genau wie beim «Verein zur Verzögerung der Zeit» geht es auch hier darum, sich der Zeit, der Glücksmomente, bewusst zu werden. Glück haben allein reicht nicht – man muss es auch noch merken, wahrnehmen und schätzen. Denn das kleine Glück ist vor allem eine Sichtweise auf die Dinge, die veränderbar sind, während die Dinge oft dieselben bleiben.

DKM | Es geht um die Glücks-Momente, Augenblicke im Alltag, also nicht um das große Glück, das laut Medien von dem richtigen Partner, dem Lotto-Gewinn oder dem einmalig schönen Urlaub abhängt?

MR | Ja, mich interessiert vor allem das situative, kleine Glück. Oft kommen mir diese kleinen Momente vor wie Sekundenauftritte. Das Aufblitzen dieses kleinen Glücks, das häufig flüchtig ist wie ein Wimpernschlag, wahrzunehmen, muss man immer wieder lernen – kleine Kinder sind in den ersten Lebensjahren Weltmeister in dieser Fähigkeit. Deshalb plädiere ich dafür, dass eine «Schule der Wahrnehmung» oder «Angewandte Glückswissenschaften» in alle Lehrpläne gehört, in erster Linie auch in die Lehrerausbildungen an Pädagogischen Hochschulen. Denn auch Glücklichsein will tausendfach geübt sein, ebenso wie Vokabellernen oder Violinespielen.