Frank Berger

Die Welt mit neuen Augen sehen

Nr 144 | Dezember 2011

Gehe den einen Weg viele Male.
Nicht zu wissen aber zu grüßen
den Baum an der Wegkehre,
vertraut zu werden
mit der Wiese am Grund
und auch der Lichtung,
die immer wieder
auftut den Himmel.
Gehe den Weg viele Male
bis er dein wird.
So übt sich die Liebe.


Hans Müller-Wiedemann, «Liebesübung»

Ein Weg, immer wieder aufs Neue gegangen, wird uns vertraut. Bei jedem Mal sehen wir bisher Übersehenes, entdecken Neues, verstehen Altbekanntes besser. Noch stärker ist dieser Effekt, wenn wir denselben Weg zurück gehen. Berggestalten, Baumformen, Gebäude erscheinen in einem völlig neuen Licht – immer wieder ist es faszinierend, wie anders die Dinge wirken, sieht man sie «von hinten».
Solche «Liebesübungen» sind heilsam, weil der Mensch im Allgemeinen recht schnell zu einer be­stimmten, eingeübten oder eingewöhnten Sicht der Dinge neigt, die er ungern revidiert. Als Heiner Geissler seinen Kompromissvorschlag zur Lösung des Konflikts um Stuttgart 21 präsentierte, erntete er von allen Seiten Kritik, denn keine der streitenden Parteien mochte von ihren Vorstellungen, mit denen sie lange Zeit gelebt hatte, Abschied nehmen.
Ist es schon schwer, sich auf zwei Sichtweisen ein und derselben Sache einzulassen, so stellt Rudolf Steiners Hinweis, man solle sich darum bemühen, eine Sache von zwölf unterschiedlichen Gesichts­­punkten aus sehen zu lernen, um sie in ihrer umfassenden Dimension zu verstehen, so etwas wie eine Utopie dar. Dennoch würde es sich lohnen, diese Anregung einmal wenigstens versuchsweise in die Praxis umzusetzen. Wie viele Konflikte eskalieren, weil es den Beteiligten nicht gelingt, einmal auch nur anfänglich die eigene Position «von der anderen Seite aus» anzuschauen. Womöglich träte dann das Wunder ein, dass wir die Dinge, die Welt, den Anderen plötzlich mit neuen Augen sehen – so, als wäre es das erste Mal. – Das ist der «Weihnachtsblick» – die Voraussetzung für das «Friede auf Erden».

Aus Stuttgart grüßt Sie von Herzen, Ihr

Frank Berger