Sabriye Tenberken und Paul Kronenberg im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Eine Chance für Visionen!

Nr 144 | Dezember 2011

Weshalb verwirklicht ausgerechnet jemand, der blind ist, seine jugendliche Vision von abenteuerlichem Leben? Warum gaben die beiden Initiatoren des Blinden-Zentrums Tibet, Sabriye Tenberken und Paul Kronenberg, nie auf, auch wenn die Anfangs­schwierigkeiten zeitweise unüberwindbar schienen (alleine in China, ohne den Rückhalt großer Organisationen)?
Die Fakten sind: Sabriye Tenberken erblindete mit 12 Jahren. Sie machte an der Blinden-Studien-Anstalt in Marburg Abitur und studierte in Bonn Tibetologie, Soziologie und Philosophie, ent­wickelte eine tibetische Blindenschrift und reiste allein nach Tibet. Dort traf sie den Holländer Paul Kronen­berg; beide waren schockiert über die katastrophalen Umstände, unter denen blinde Kinder dort lebten: weggesperrt, verborgen, weil Blindheit als Schande und Schicksalsstrafe gilt. Sie bauten ein Blinden­zentrum in Lhasa auf, das heute von ehemaligen Schülern geführt wird. Sabriye Tenberken und Paul Kronenberg gründeten dann 2009 in Kerala (Süd­indien) das International Institute for Social Entrepreneurs (iise), heute Kanthari International: Menschen, die von Blindheit oder Diskriminierung betroffen sind und sich für Veränderungen einsetzten, werden in einem 7-monatigen Kurs gefördert – um ihre Vision von Leben, von Entwicklungschancen umzusetzen. Energie, Leiden­schaft und Lernbe­reitschaft dieser Frau und ihres Partners machen es möglich.

Doris Kleinau-Metzler | Frau Tenberken, wie kamen Sie dazu, sich in Tibet zu engagieren?

Sabriye Tenberken | Im Nachhinein denke ich, dass es auch daran lag, dass man in Deutschland genau zu wissen schien, was eine Blinde kann und was sie nicht kann. Aber ich wollte mir nichts vorschreiben lassen, nur weil eine meiner vielen Eigenschaften auch die Blindheit ist! Der größte Dank geht an meine Schule, die Carl-Strehl-Schule in Marburg, an der wir Blinden optimal gefördert wurden und Selbstvertrauen entwickeln konnten: Wir sind zusätzlich zum Schulunterricht geritten, geschwommen, haben Wildwasser­touren und Windsurfing gemacht, sind alpin Ski gefahren. Unser Philosophielehrer konfrontierte uns in der 10. Klasse dann mit der Frage: Gibt es ein Leben nach dem Abitur? Wofür lerne ich? Wo ist mein Platz in der Welt? Er sagte auch: Überlegt nicht, was ihr jetzt könnt oder nicht, denn vielleicht ist es nicht das, was ihr wirklich in eurem Leben wollt. Meine Vorstellung war, dass ich ins Ausland wollte, Abenteuer erleben und etwas Sinnvolles tun. Das klingt nach Entwicklungshilfe, meinte mein Lehrer – aber Entwicklungs­hilfe­organisationen konnten sich nicht vorstellen, dass ich als Blinde für sie arbeite. Also musste ich einen eigenen Weg finden. Eine Riesen­chance! Es ist viel spannender, unausge­tretene Wege zu gehen.

DKM | Sie beide haben Abenteuerliches in Tibet erlebt, vor allem aber eine Schule für blinde Kinder und eine Ausbildungsfarm aufgebaut. Die Kinder werden nach dem Motto «Hilfe zur Selbsthilfe» soweit gefördert, dass sie danach erfolgreich eine Regelschule be­suchen können. Nicht allen Menschen gelingt es, die Pläne ihrer Jugend zu verwirklichen. Weshalb ist das so schwer?

Paul Kronenberg | Jeder kommt in seinem Leben an eine Schwelle, eine Grenze, denke ich. Viele Menschen drehen dann um. Manchmal haben Menschen zwar Vorstellungen, wie sie sich engagieren wollen, aber tausend Gründe scheinen dagegen zu sprechen. Wenn man aber seine Energie darauf konzentriert, Lösungen zu suchen, statt nur die Hindernisse zu sehen, gibt es dennoch jedes Mal einen Weg! In Tibet haben wir gelernt, Fehlschläge nicht sofort nur negativ zu bewerten, sondern abzuwarten, was sich daraus entwickelt. Meist ist dann nach einigen Tagen oder auch Jahren etwas Besseres daraus geworden, wie bei dem zunächst versprochenen Grundstück für unsere Farm, das auf einmal nicht mehr zur Verfügung stand: Zwei Jahre später wurde uns durch das Rote Kreuz ein Grundstück angeboten, das größer und schöner war.
Man muss den Dingen Zeit geben und sich von Rück­schritten nicht in eine Niedergeschlagenheit ziehen lassen. Unsere Motivation weiterzumachen ergab sich auch aus der Ver­antwortung für die Kinder: Es geht nicht mehr um einen selbst, sondern darum, dass die Kinder nicht in ihre Isolation zurückgeschickt werden müssen. Und wir haben so viel zurückbekommen für unsere Arbeit, von den blinden Kindern, von Yumi, von Nima (der heute die Schule leitet) und all den anderen, die nicht mit ihrer Blindheit hadern, sondern sich ihres Lebens freuen und die neuen Möglichkeiten begeistert nutzen. Darum verstehen wir unsere Arbeit nicht als Aufopfern, sondern etwas mit anderen zu tun, gehört zum normalen Entwicklungsweg eines Erwachsenen.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

DKM | In Ihrem spannend zu lesenden Buch Das siebte Jahr schreiben Sie, Frau Tenberken: «Wirkliche Integration geschieht nur durch eigene Kraft.» Wie ist das möglich – trotz körperlicher Einschränkungen?

ST | Wichtig ist, sich selbst oder andere, auch Blinde, nicht als Opfer anzusehen, die nur bemitleidet werden können, sondern zu reali­sieren, dass alles zwei Seiten hat: Wenn ich etwas abgebe, habe ich auch Platz, um Neues zu empfangen. Seitdem ich blind bin, bin ich viel konzentrierter, fokussierter auf das, was mir wichtig ist, weil ich nicht mehr so abgelenkt werde. Aber ich bin nicht gut im Multi­tasking, kann beispielweise nicht gleichzeitig mit dem Stock meinen Weg suchen und telefonieren. Mit einer Behinderung erlebt man oft, dass einem zunächst von außen Grenzen gesetzt werden, und lernt deshalb, kreativ damit umzugehen. Ein Vorteil ist, dass ich mir über meine Hindernisse klar bin. Ich habe eine gute Frustrationstoleranz entwickelt, was ich als Geschenk, als Fähigkeit erlebe, die in mir gewachsen ist. Und ich glaube auch, dass Blinde potenziell größere Phantasie haben, denn wir müssen uns ständig etwas vorstellen.

PK | Zunächst ist sicher das Wichtigste für Blinde, wie für alle Kinder, dass die eigenen Eltern einem etwas zutrauen, wie es Sabriye erlebt hat. Wenn sie dagegen versuchen, ihrem Kind möglichst viel abzunehmen, werden diese eingeschränkt und damit handlungsunfähig gemacht. Je mehr man aber selbst kann, umso mehr wird das eigene Selbstbewusstsein gestärkt. Und diese innere Kraft sollte man von außen fördern, wie wir es mit unseren Schülern in Tibet tun: Sie machen alles selbst, erledigen den Abwasch, klettern auf Bäume, spielen Fußball; nichts ist speziell auf die Blinden angepasst. Wenn Sonderpädagogen aus dem westlichen Ausland zu uns kommen, staunen sie darüber und entdecken über­all mögliche Gefahren. Aber die ganze Welt ist gefährlich, wir können nicht das gesamte zukünftige Umfeld des Behinderten an ihn anpassen – doch wir können den Blinden auf die Welt vorbereiten, indem er ein normales Umfeld hat und lernt, mit dem Stock umzugehen. Für Blinde ist zudem die Fähigkeit zu kommunizieren wichtig, deshalb lernen die Kinder bei uns außer Tibetisch auch Chinesisch und Englisch.

DKM | Wie kam es dann zur Gründung von iise, dem Internationalen Institut für soziale Unternehmer, in Kerala in Indien?

ST | Es gab immer wieder Anfragen, ähnliche Projekte zu gründen. Wir allein könnten das nicht bewältigen, haben aber an uns und unseren Schülern in Tibet erlebt, wie entscheidend Träume von einer besseren Zukunft sind, um etwas zu verändern. Visionen stehen am Anfang jeder neuen Entwicklung! Wir selbst entwickelten auch eine Vision davon, wie und wo wir zukünftig leben wollten. So entstand die Idee, ein Institut zu gründen, um Men­schen zu befähigen, ihre sozialen Ideen zu verfolgen. 2009 begann dann der erste Kurs in Kerala mit 20 Teilnehmern. In einem Intensiv­durchgang von sieben Monaten vermitteln wir in einer praxis­nah orientierten Ausbildung, was wir als wesentlich bei unserer Arbeit in Tibet erlebt haben. Mittlerweile ist über die Hälfte der seitdem bei uns graduierten Teilnehmer mit eigenen Initiativen erfolgreich (von Hilfen für ehemalige Kindersoldaten und Straßenkinder bis hin zu Schulgründungen). Wie in einem Schnee­balleffekt verbreiten sich so Projekte für eine positive Veränderung der Welt.

DKM | Wie kommen die Bewerber zu Ihnen, wie wählen Sie aus?

ST | Die Menschen, die bisher aus 23 Ländern zu uns kommen (hauptsächlich aus Afrika), sind sehr unterschiedlich: Sie sind zwischen 22 und 60 Jahre alt und haben teilweise Schreckliches in Kriegs- oder Krisenregionen erlebt, einige haben keinen Schul­abschluss, andere einen Hochschulabschluss. Gemeinsam ist allen, dass sie in ihrem Leben einen pinching ball, eine Art Knackpunkt hatten und sich sagten: Jetzt muss sich etwas ändern! Aus diesem Schwung entsteht eine kreative Wut, etwas explodiert und setzt Energie frei (sie springt auf und macht eine Wurfbewegung). Deshalb sind es oft sehr charismatische Menschen, die über sich hinausschauen und Verantwortung übernehmen – auch, weil sie ihre Vision als Ansporn für ihr eigenes Leben erleben. Konkret haben wir die Idee des Studiums zunächst weltweit durch Blinden­verbände und Hilfs­organisationen verbreitet, inzwischen laufen viele Informationen über das Internet. Englisch ist Voraussetzung, aber ansonsten sind Persönlichkeit und die innovative Idee entscheidend für die Auf­nahme. Neben den schriftlichen Bewerbungs­unterlagen ist das Internet hilfreich in diesem Ver­fahren, ebenso später bei den Prüfungen im Studium, zu denen ebenfalls ausgewählte Experten zugeschaltet sind und mitwirken. Das Studium in Kerala ist sehr intensiv, wie eine Art Leadership-(Führungs)Schulung, in der man Business-Ideen für die eigene Vision entwickeln lernt.

DKM | Was und wie lernt man bei Ihnen?

ST | Die Ausbildung ist ähnlich wie ein Theaterstück aufgebaut, ist a journey in five acts, eine Reise in fünf Akten: Im 1. Akt entwickeln die Studierenden aus der Analyse der schönen und schwierigen Seiten eines Entwicklungslandes theoretische Projektideen. Diese Ideen werden einer internationalen Jury vorgestellt, wobei es nie um Noten geht, sondern wie bei allen unseren Prüfungen immer um ein Gespräch über Stärken und Schwächen. Der 2. Akt findet bei einer Hilfsorganisation in Kerala statt, wo die Studierenden beispielsweise eine Kampagne gegen gefährliche Bleich-Cremes oder ein Heim für Kinder von Prostituierten unterstützen, dann folgt ein Praktikum im Geschäftsführungsbereich einer Institution in Indien oder Nepal, um auch mit Ver­waltung vertraut zu werden. Im 4. Akt konzentrieren sich die Studenten mit unserer Unterstützung auf ihr Projekt, das sie dann in einer 15-minütigen Bühnenpräsentation vorstellen. Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt. Nach dem 5. Akt, der zuhause in den Projekten stattfindet, erfolgt die Zertifizierung. Vieles orientiert sich an den konkreten Fragen und Problemen der Teilnehmer.

DKM | Eine ganz besondere Reise, die das Leben der Teilnehmer verändern kann, denke ich. Auch die Fotos von der schönen Umgebung des Instituts in Kerala erinnern an Reisen.

PK | Gerade für Menschen, die aus den schwierigsten Lebensbedingungen kommen, manchmal nicht wussten, ob sie am Abend etwas zu essen haben, gehört ein ansprechendes und geregeltes Umfeld dazu, um sie für ihre Vision, ihre Aufgabe zu stärken. Alle unsere Gebäude sind mit geringen Kosten aus lokalem Material, Lehm, gebaut und umweltfreundlich mit Solarenergie ausgestattet, kein einziges Klassenzimmer hat die gleiche Form, denn wir planen von innen nach außen – den Bedürfnissen entsprechend. Um die eigenen Visionen umzusetzen, muss man von alten Denkstrukturen und äußeren Mustern wegkommen! Dazu gehört auch Ästhetik und Ökologie.