Corinna Vitale und Stefan Bütschi im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Unterwegs miteinander

Nr 146 | Februar 2012

Jede Biographie ist mehr als die Geschichte dieses einen Menschen. Begegnungen bringen überraschende Wendungen, die den weiteren Lebensweg prägen. Manchmal wird daraus ein gemeinsamer Weg, eine Partnerschaft, bei der einer der beiden viel aufgibt. Aufgibt – oder Neues entdeckt? So wie der Schweizer Regisseur, Autor und Clown Stefan Bütschi, der zum Hausmann wurde, damit seine Frau, die Tänzerin und Choreographin Corinna Vitale, das gerade begonnene, ersehnte Projekt einer eigenen Tanztruppe trotz der Schwangerschaft realisieren konnte. Sohn Rocco kam vor 15 Jahren zurWelt, aber Stefan Bütschi ist schon lange nicht mehr allein Hausmann und Vater, sondern baute gemeinsam mit seiner Frau im abgelegenen Centovalli im Tessin eine alte Fabrik zu einem Wohn- und Begegnungs-/Theaterraum um, auch um das eigene soziale Umfeld nachhaltig mitzugestalten. Alle Kunst beruht auf der Sehnsucht, sich auszudrücken. Bei Corinna Vitale und Stefan Bütschi ist daraus auf eigene Art Lebenskunst geworden: Tanz und Theater ist innere und äußere Bewegung, Bewegung braucht Raum und Zeit zur Entfaltung – und ist offen für Wesentliches, immer wieder neu, in der Kunst, im Leben.

Doris Kleinau-Metzler | Frau Vitale, wir sitzen hier neben dem Schild «Atelier al Confine», man schaut neugierig auf die hohen Atelierfenster, die große Bühne im Inneren und auf die links in die Halle gebaute Wohnung Ihrer Familie. Ist das ein wahr gewordener Jugendtraum von Ihnen?

Corinna Vitale | Nein, als junger Mensch war ich zunächst sehr unsicher darüber, was ich werden wollte. Ich habe schon als Kind immer gerne getanzt und Musik gemacht, konnte mir aber nicht vorstellen, dass das mein Beruf werden könnte. Deshalb arbeitete ich nach dem Gymnasium im Sommerhalbjahr in einem sozialen Projekt für Obdachlose in Lyon, und imWinterhalbjahr machte ich eines meiner damaligen Hobbys zum Beruf und wurde Skilehrerin. Musik und Tanz ließen mich nicht los und führten mich dann nach Salzburg ans Mozarteum, wo ich Musik und Tanz studierte. Ich schloss dort nach vier Jahren mein Studium ab und ging in die USA, um mich in Modern Dance weiterzubilden.Später war ich zeitweise hin- und hergerissen von der Frage, ob ich an einem größeren Theater als Choreographie-Assistentin arbeiten könnte – aber ich habe immer gerne selber getanzt, wollte mich nicht nur auf einen Bereich festlegen. Seither suche ich mir meinen eigenen Weg.

DKM | Arbeiten in einem freien künstlerischen Bereich, ohne feste Arbeitsstelle, heißt auch, dass man kein regelmäßiges Einkommen hat. Hatten Sie deshalb keine Existenzängste?

CV | Nein, weil ich immer wusste, egal wo ich war: Ich kann etwas. Deshalb kann ich auch irgendetwas für meinen Lebensunterhalt arbeiten, und sei es, putzen zu gehen. Doch es ergab sich anders: Nach einigen Jahren in den USA kam ich zurück in die Schweiz und ging später alsTanzlehrerin zur Dimitri-Theaterschule ins Tessin. Nach sechs Jahren machte ich meinen Traum wahr und gründete 1996 meine eigeneTruppe, die CompagniaVitale.Die Idee des ersten Stückes war, modernen Tanz mit traditionellen Formen des Volkstanzes zu verbinden, die früher auf der Piazza getanzt wurden, wenn sich die Bewohner abends am Brunnen trafen. Wir haben dann auf Plätzen im ganzen Alpenraum unsere Stücke aufgeführt, mit wenig Requisiten und in unterschiedlicher Zusammensetzung von Tänzern und Musikern. Und um die einzelnen Tanzstücke zu verbinden, brauchten wir einenTanzmeister. So ergab es sich, dass Stefan dazukam.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

DKM | Herr Bütschi, Sie sind außer Regisseur und Clown also auch Tanzmeister.War die Zusammenarbeit mit ihrer Partnerin so geplant? Wie begann Ihre künstlerische Laufbahn?

Stefan Bütschi | Das war alles überhaupt nicht geplant, an so etwas konnte ich damals als jungerMann ohnehin nicht denken.Mir war als 18-/19-Jährigem nur wichtig, das auszuprobieren, was mich schon während der Schulzeit anzog, und das war Schauspieler, Clown zu sein, zu werden. Ich bin ein halbes Jahr vor dem Abitur von der Schule gegangen, ohne Noten, habe eine Postkarte geschrieben, dass ich aufhöre. Die Zeit war nicht lustig,meine Eltern hatten gehofft, dass ich Matura (Abitur) mache und dann etwas Normales studiere ... Aber ich wollte nicht, auch wenn ich damals nicht genau sagen konnte,weshalb. Irgendwie hatte ich Angst, dass ich, wenn ich die Matura machen würde, vielleicht auf ein Lehrerseminar gehen würde, als Lehrer arbeiten und nur zusätzlich ein bisschen Theater spielen würde. Das Theatermachen kann dann nur nebenher laufen. Ich war mir damals auch noch nicht sicher, ob mir der Einstieg in den künstlerischen Bereich gelingen würde, ob ich das kann. Aber ich wollte es versuchen und habe wohl die Brücke zum normalen Berufsweg abgebrochen, damit ich nicht einfach ausweichen kann. Es war nicnicht leicht, doch ich war volljährig und konnte selbst entscheiden.
DKM | Gerade heutzutage,wo das Abitur als Voraussetzung für einen gelungenen Lebensweg gilt, kann man gut nachvollziehen, dass es nicht einfach war für Sie, für Ihre Eltern – und man staunt über Ihren Mut, auf sich, auf dieses vage innere Gefühl für Ihre Zukunft zu hören.

SB | Es war auch irgendwie unanständig, dumm, was ich gemacht habe, ich weiß das schon ...Aber für mich ist meineArbeit bis heute das Allerschönste, was ich tue, denn sie fordert mich mit allem heraus,was ich kann, immer wieder. Damals in Zürich besuchte ich einige Zeit nach dem Schulabbruch eine Theaterschule, gründete mit zwei anderen ein Clowntrio und kam Anfang der Neunziger Jahre zum Circus Theater Federlos, mit dem ich in Afrika war, in Nigeria, Benin und Ghana. Mit einer Ghanaerin, die auchTänzerin, Sängerin und Trommlerin war, bildeten wir ein gemischtes Clownspaar. 1995 spielte ich in Leeds in Großbritannien in Beatification of Area Boy, einem Stück von Wole Soyinka, dem nigerianischen Literatur-Nobelpreisträger.Wir waren nur wenige weiße Schauspieler, das Stück sollte 1996 auf eine Welttournee durch die Commonwealth-Länder gehen.Aber 1996 gründete Corinna auch ihre Truppe – und wurde fast gleichzeitig schwanger. Dann habe ich gesagt: Ich höre dort auf, komme aus Zürich ins Tessin und bleibe als Hausmann undVater zunächst für ein Jahr zu Hause.

DKM | Bis heute ist es unüblich, dass ein Mann wegen eines Kindes seine Pläne aufgibt. Wie kamen Sie dazu?

SB | Es war ein Wahnsinnsschritt für Corinna, eine eigene Truppe zu gründen. Sie hat dafür so viel Mut aufgebracht, ihr ganzes Erspartes eingesetzt, Schulden gemacht; man übernimmt damit große Verantwortung, engagiert Tänzer, muss sie bezahlen. So etwas Großes, Eigenes machst du nur einmal im Leben. Ich habe mich gefragt: Muss ich das jetzt machen, diese Welttournee? Sicher wäre es spannend gewesen, aber ein Schauspieler kann leichter ersetzt werden als ein Vater. Rückblickend denke ich, dass die Situation damals mir auch zu einer Art Denkpause verholfen hat.

CV | Du warst auch jemand, der ein Kind wollte und hast dich gefreut, dass ein Kind kommt.

SB | Ja, ich habe es vorher einfach nicht für möglich gehalten, denn ich war immer mehr ein Improvisator, habe von der Hand in den Mund gelebt. Darum hat mich riesig gefreut, dass wir ein Kind bekommen; man ist dann unterwegs miteinander als Familie. Aber ich wollte eigentlich nicht beruflich mit Corinna zusammenarbeiten, denn ich hatte schon einmal erlebt, dass eine Beziehung durch das gemeinsame Arbeiten, den Alltag auseinanderging. Aber dann ist es doch anders gekommen ...

CV | Ja,wir brauchten schon beim ersten Programm jemanden, der die verschiedenen Tänze, die wir aufführten, verbindet.Von da an waren wir gemeinsam unterwegs, zu dritt und mit der Truppe.

DKM | Gemeinsam unterwegs, auf den Piazzas, als junge Familie. Und heute, hier in diesem Dorf Camedo, ist Ihr Atelier manchmal eine Art Treffpunkt, wo Bewohner des Tales, Tessiner wie Deutschschweizer aus den abgelegenen Orten, und Freunde aus der ganzen Welt zu Festen, zu Ausstellungen kommen. Wie kamen Sie dazu, sich in dieser abgelegenen Ecke anzusiedeln?

SB | Es sind vier Stunden nach Zürich, drei Stunden nach Bern, zwei Stunden nach Mailand und nur acht Stunden nach Paris, denn durch die Eisenbahn direkt vor unserer Tür, die uns auch mit Locarno verbindet, ist es nicht so abgelegen.Wir und die Besucher sind nicht allein aufs Auto angewiesen – was uns auch wichtig war, als wir damals einen guten Probenraum für die Compagnia Vitale suchten. Das heutige Atelier war früher eine Textilfabrik (eine Zuschneiderei für spezielle Arbeitskleidung und Armeeuniformen), die aber wegen billigerer Arbeitskräfte von hier weggezogen ist und leer stand.

CV | Alles sah katastrophal aus,mit kaputten Fenstern, überall Abfall, aber der Besitzer überließ uns das Gebäude zunächst umsonst zum Ausprobieren.Und wir merkten bald, dass es uns hier sehr gut gefiel, dass wir auch im Dorf nicht das Gefühl hatten, fremd zu sein. Und als wir uns entschieden hatten, auch hier zu wohnen, fragten wir uns: Wie wollen wir leben? Wir wollten nicht einfach in einem tollen Haus wohnen und arbeiten, einen neuen Theaterraum eröffnen, sondern auch etwas mit der Umgebung zu tun haben und einen Begegnungsraum für neue Ideen schaffen.

SB | Ja,wir wollten auch anderen Gruppen die Gelegenheit geben, hier zu arbeiten. Und 2008 hat sich zum Beispiel über Kontakte von Corinna ergeben, dass hier eine Architekturklasse derTessiner Fachhochschule ihre Diplomarbeiten ausstellen konnte. Das Thema war der nachhaltige Umbau einer Fabrik in ein Begegnungszentrum.Das hat über einen längeren Zeitraum viele Menschen angezogen, auch wegen der Informationen zu Solarenergie und nachhaltigem Bauen. Man kam mit vielen Menschen intensiv ins Gespräch; und ich habe genossen, dass ich nicht im Mittelpunkt stand und niemand sagte «gut gespielt», sondern dass es um eine spannende, zukunftsweisende Sache ging.

CV | Wir hoffen, dass wir damit zu einer Trendwende beitragen, denn viele Menschen sind aus dem schönen Tal weggezogen – aber sie sind neugierig, was sich hier entwickelt und schauen,wie sich hier manches zum Positiven ändern lässt.

DKM | Wenn Sie zurückschauen, was war wichtig in Ihrem Leben, was nehmen Sie mit in die Zukunft?

SB | Im Moment stimmt für uns alles hier gut zusammen; durch die Bauphase der letzen Jahre blieb allerdings nicht viel Zeit übrig für die eigene Truppe (eher arbeiten wir in auswärtigen Projekten). Trotzdem genieße ich das mit allen Fasern. Mal sehen, was weiter passiert ...

CV | Eine gewisse Unabhängigkeit, zu tun,was uns wichtig ist, war immer entscheidend für uns. Und ich habe viel Kraft und Mut von Stefan bekommen, allein bin ich nicht so mutig.Andererseits bringt er auch immer wieder gewisse Spinnereien in unser Leben, auch aus Begegnungen. Das ist das schöne an unserem Beruf:Wir leben mit relativ wenig Geld und haben nicht viel Luxus, aber es gibt doch viele Bekanntschaften mit Menschen, die wir unterstützt haben, von denen wir profitiert haben, und zu denen wir auch gehen können. Diese Menschen, die Kontakte mit ihnen, das ist eigentlich unser Reichtum.