Ralf Lilienthal

Das Geheimnis des schwingenden Tones

Nr 146 | Februar 2012

Jede Glocke singt ihr eigenes Lied, verkündet ihre eigene Botschaft

Manchmal werden wir mitten im Alltag wach und hören sie: fern, leise, die Stundenglocke des kleinen Frauenklosters. Schlag Zwölf, mit hartem Klang, die Turmuhr über dem Marktplatz.

Oder das wilde, sich überschlagende Hochamtsgeläut einer Vorstadtkirche. Und dann wird uns bewusst, wir leben noch immer in «Glockenland». Wirklich? Nun ja, nicht unbedingt in der lärmenden Fabrik, dem schallisolierten Großraumbüro und im HiFi-, TV- oder iPod-Ohren-Verließ schon gar nicht. Und mit dem Lebensgefühl ferner, vorindustriellerTage darf man das 21. Jahrhundert schon überhaupt nicht vergleichen. Damals, als der Kirchturm sämtliche Profanbauten überragte, stieg auch der Ton der Glocke über jeden Alltagsklang hinauf. Und die Glocke war Andacht, Gedenken, Mahnung und Warnung. Oder anders ausgedrückt, sie war der Inbegriff von «Heimat».
Doch wie werden Glocken gemacht? Unsere Groß- und Urgroßeltern wussten das noch. «Fest gemauert in der Erden, steht die Form aus Lehm gebrannt ...» – 63 Strophen hat Schillers Lied von der Glocke, und es wurde ihnen so oft eingepaukt wie kaum ein zweites Gedicht.
«Ja, Schiller ...»,werden viele jetzt denken, «das ist lange her, heute werden Glocken doch sicherlich ganz anders gemacht.» Nämlich wie? «Industriell wahrscheinlich?»
Tatsächlich begann mit dem Aufstieg der Montanindustrie auch eine Ära der Glocken aus dem Gussstahlwerk. Allen voran die tonnenschweren, weltaustellungsprämierten Großglocken des «Bochumer Vereins«. Vor allem mit dem Beginn der Wilhelminischen Aufrüstung, als das Zinn der Glockenbronze wichtiger Kanonen-Rohstoff wurde, erklangen aus den jetzt feuerverzinkten Glockenstühlen immer häufiger kurze, harte Stahlglockenklänge.
Trauriger Höhepunkt im Nazi-Deutschland war der Hamburger
Glockenfriedhof, auf dem die traditionellen Bronzeglocken achtlos übereinander gestapelt lagen und nach und nach eingeschmolzen wurden.
Und die Gussstahlglocken blieben für die Ewigkeit? Nicht einmal für eine halbe! Was an den Glocken selber lag, die viel zu schnell brüchig wurden. Aber auch an den Glockenstühlen, die nicht selten von unkundigen örtlichen Schlossern gebaut waren und dem fortgesetzten Schwingen und Vibrieren der mächtigen Klangkörper nichts entgegenzusetzen hatten.

Gussstahlglocken sind heute Geschichte. Stattdessen hat die ältere Zunft der Bronzeglockengießer ihren angestammten Platz schon wieder restlos eingenommen. Fünf an der Zahl sind deutschlandweit übriggeblieben. Auch eine Meisterin ist darunter, Cornelia Mark-Maas in Brockscheid. Und die haben wir in dem kleinen Eifeldorf besucht. Dort hatte sich, mit der jahrhundertealten Familientradition (nachweisbar seit 1620) derWanderglocken- und Geschützgießer brechend, um das Jahr 1840 einer ihrer Vorväter niedergelassen, einen Ofen gemauert und eine Dammgrube geschachtet. Hat Zirkel und Dreieck in die Hand genommen – die gleichen, mit denen noch heute vermessen wird –, hat gerechnet, geformt und gegossen, nach Maßen und Mischungen, wie sie das Familiengeheimnis seit Generationen gebot.
Und heute? Wer auf den Hof der Eifeler Glockengießerei fährt, sieht sich von zwecknüchterner Gewerbearchitektur umgeben. Ein hölzerner Glockenstuhl in einer Gebäudeecke, eine lackierte große Stahlglocke – nur wenig deutet hier auf das ehrwürdige Gewerk.
Als aber Horst Letsch, ein nimmermüder Führer durch dieBrockscheider Hallen, mit Modellen und Fotos den Weg derGlocke erläutert, begreift der Reporter, dass er soeben eine Zeitreise angetreten hat.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

Arbeiten wie vor 400 Jahren

Die erste verblüffende Erkenntnis: Der Glockengießer arbeitet bis heute mit Rohstoffen im ursprünglichsten Sinn des Wortes. Lehm, Rinderhaare, Pferdemist, Ziegel und Wasser. Holzkohle. Wachs. Graphitpulver. Mutterboden. Zinn und Kupfer. Außerdem Leder, Gusseisen und immer wieder Holz. Eine archaische Material-Palette. Und ein Erlebnis von «alt» und «ehrwürdig», das noch steigerbar ist. Denn kaum öffnet sich die Türe zur eigentlichen, großen «Werkshalle», schweift der neugierige Blick ungläubig über eine Art Handwerksmuseum, eine Filmkulisse, in der jeden Moment Männer in Lederwams und Linnenhemd auftauchen könnten.Was sieht man? Eine Grube. Einen staubigen Brennofen. Stapelweise Ziegel. Große Rührwannen («Bäckerteigmaschinen!»). Gemauerte Glockenkerne. Holzstöße. Und – im Staub derWerkshalle schockierend schön – die mattglänzenden Glocken eines großen Kirchengeläuts, vom Glockensachverständigen des Bistums Paderborn gerade erst begutachtet und für perfekt befunden worden.
«Das gibt’s doch nicht! Das ist ja wie früher! Unglaublich!» Der Reporter ist nachhaltig beeindruckt.
Später, im Büro der Glockengießerin, während auf dem Bildschirm gerade eine Anfrage aus Brasilien eintrifft, wird er dann wieder auf die Füße gestellt. «Natürlich arbeiten wir, trotz Kran, Radlader und modernem Ofen, noch immer wie vor 400 Jahren. Aber wir stehen nicht außerhalb der Zeit.» Und dann lässt Cornelia Mark-Maas die modernen Seiten der Glockengießer-Unternehmerin sichtbar werden. Die knallharte Ausschreibungspraxis («Nur der Preis entscheidet!»), den engen Markt («Eine Bronzeglocke hält ein paar hundert Jahre, und allzu viele neue Glocken werden nicht mehr gebraucht»).* Ihre überwiegend administrative Arbeit («An einer Inschrift zu arbeiten, ist für mich eine seltene Erholung»).Das umfangreiche Beigeschäft («In der Saison kommt alle halbe Stunde ein Bus!»).
Nein, Glockengießen, zumal in Zeiten knapper Kassen, ist nichts für Romantiker. Für Handwerker schon! Denn «eine Glocke ist» vor allem eins, «ein großes Stück Handarbeit! Von feinsten Fingerarbeiten bei den Wachsformen der Inschriften, bis zur puren Muskelkraft, wenn der Ofenbeschickt wird – unser Beruf ist der perfekte Zusammenklang aus allem!» Das sagt Julius Mark-Maas, Deutschlands bester Geselle seines Jahrgangs und der jüngste Spross der Brockscheider Glockengießer-Familie.

Und wie geht das nun konkret? Den Anfang macht die Meisterin in der künftigen Glockenstube. Welcher Grundton soll es sein? Welche Nebentöne? Größe,Dicke,Wandprofil? Ihre Erfahrung und die Kenntnis des seit Jahrhunderten vom Meister auf den Erben weitergegebene Glockengießergeheimnisses schlagen sich schließlich in der «Rippe» nieder, eine drehbare, zentral über dem Gusskörper aufgehängte Buchenholzschablone, deren Innenform dem Umriss der späteren Glocke entspricht.
Im ersten Schritt wird der «Glockenkern» aufgebaut, dessen Ziegel-Lehmkörper identisch mit dem Innenraum der fertig gegossenen Glocke ist. Seine innerste, mit Lehm verfugte Ziegelgrundform ist hohl, kann wie ein Brotofen mit Briketts oder Holz gefüllt werden und eignet sich so zum Austrocknen der von Hand aufgetragenen Schichten aus Lehm, Rinderhaaren und Pferdemist.
Tagsüber tragen die Glockengießer mit bloßer Hand jeweils eine Schicht dieser zäh und fest aushärtenden Mischung auf, glätten sie mit der Glockenrippe und heizen ihr über Nacht behutsam ein.
Während die Innenseite der Rippe immer weiter ausgeschnitten und abgefeilt wird, erreicht der wachsende Glockenkern nach etwa zwei Wochen seine endgültige Größe.
Nach Auftrag einer Trennschicht aus Graphitpulver werden dann im zweiten Schritt die Schichten der sogenannten «Falschen Glocke» aufgetragen. Diese ist gewissermaßen der Platzhalter der künftigen Bronzeglocke. Ihre letzte Lehmschicht wird mit heißem Rindertalg übergossen und ganz glatt abgezogen. Darauf klebt der Glockengießer dieWorte und Bilder der künftigen Inschriften als Wachspositive auf und bepinselt das Ganze dann vorsichtig mit einer hauchfeinen Lehmschicht, die zugleich die innerste Schicht des aufsitzenden «Glockenmantels» ist. Wenn im dritten Schritt auch dessen Aufbau, samt eingearbeiteter Metallreifen, nach einigen Tagen beendet ist, wird die Glockenform mit einem starken Holzfeuer ausgebrannt. Dabei schmilzt das Rinderfett, und der Mantel kann abgehoben werden. Nach Zerschlagen der Falschen Glocke und dem erneutenAufsetzen des Mantels ist der Hohlraum entstanden, der später über die ebenfalls aus Lehm geformte Glockenkrone mit flüssiger Bronze befüllt werden kann.

Geduld und Hoffnung

Sind sämtliche Gussformen einer Ofenfüllung in der Dammgrube aufgebaut, werden die Zwischenräume mit Erdboden aufgefüllt, verdichtet und mit einem System untereinander verbundener Gussrinnen versehen. Dann endlich, einmal imVierteljahr, ist es so weit: 7,5 Tonnen «Glockenspeise» –
78 % Kupfer, 22 % Zinn – wurden in 24 Stunden auf 1100 Grand erhitzt und sollen nun in knapp 10 Minuten gegossen werden, ein Ereignis, das von vielen Gästen mit angehaltenem Atem verfolgt wird: «Es reisen immer einige Hundert Menschen aus den Gemeinden an, für die unsere Glocken hergestellt wurden.»
Kurz vor dem Anschlagen des Ofens kann man die Spannung mit Händen greifen.Zuerst segnet ein Priester den Guss, dann spricht die Meisterin den traditionellen Spruch: «Lass den Guss beginnen, lass in Gottes Namen rinnen, stoß den Zapfen aus, Gott bewahr das Haus.» Jetzt muss jeder Handgriff stimmen. Die Gießereimitarbeiter arbeiten unter Extrembedingungen, schon der kleinste Tropfen Schweiß in der glutflüssigen Bronze führt zu Verpuffungen. Und wenn Luftblasen in der Bronzemasse eingeschlossen werden, ist die Glocke verdorben. Noch einmal heißt es warten. Denn die Bronze muss langsam und spannungsfrei etwa 14 Tage in der schützenden Erde erkalten.
Und dann – die Glocke ist bereits gereinigt und poliert – kommt der Moment, der alles entscheidet. Die Meisterin überprüft mit verschiedenen Stimmgabeln die Exaktheit der Töne und weiß erst jetzt, ob das vergangene Vierteljahr nicht vergebens war und der Guss gelungen ist. Und der Laie? Die Klangnuancen einer Glocke entgehen seinem ungeübten Ohr. Ihr feiner, weicher Klang und der minutenlange Nachhall gehen ihm allerdings so nahe am Objekt buchstäblich unter die Haut. Glockengießen ist eine Übung in Geduld und Hoffnung. «Man hofft, dass rauskommt,was man vorher berechnet hat.» Dass die Form nicht zerbricht, die Bronze ohne Einschlüsse ist und die Schriftzeichen sauber ausgeformt sind. Und dass ihr seelenvoller Klang die Herzen der Menschen noch lange berührt.