Maria A. Kafitz

Auf Stelzen durch New York

Nr 147 | März 2012

Kennen Sie Edward Norton? Klar. Er ist seit Fight Club unter der Regie von David Fincher ein unvergessener Sonderling: Wie viele Persönlichkeiten verbergen wir in uns? Und was ist mit Ethan Hawke? Ach, Ethan, natürlich … Alle romantischen Seelchen sind mit ihm in Before Sunrise eng umschlungen durch Wien gelaufen und manche haben ihm nach Before Sunset zugerufen: Tu das nicht wieder, bitte! Denn zweite Teile einer guten Geschichte sind selten wirklich gut. Und Lady Gaga? Entstehen Bilder bei diesem Namen? Zwangläufig: omnipräsent, schrill, bunt und dennoch – oder gerade deswegen – eine nicht unsympathische Zeitgenossin (wenn sie nicht gerade singt). Und Michael Bloomberg? Da wird die Kenntnisluft schon etwas dünner, wenngleich es dem ehemaligen Bürgermeister von New York immerhin gelang, überhaupt zu einer dritten Amtszeit per Bürgerentscheid zugelassen zu werden, und sein Eintritt in den illustren Kreis der Initiative The Giving Pledge durch alle Gazetten ging.
Zusammen mit anderen überaus Betuchten wie den Initiatoren Bill Gates und Warren Buffett entschied sich auch Bloomberg, mehr als die Hälfte seines Vermögens für gemeinnützige Zwecke zu spenden. Es gibt durchaus sinnlosere Arten, seine Reichtümer zu verteilen. So weit, so gut, so prominent.
Und was ist mit Joshua David und Robert Hammond? Nein? Sie kennen keinen der beiden? Das sollte und wird sich ändern, wenn Sie weiterlesen. Beide, der eine Journalist und Umweltschützer, der andere Unternehmensberater in Sachen Nachhaltigkeit und Künstler, sind Überzeugungstäter. Beide wissen, wie man Aufmerksamkeit erregt. Und beide verbindet, auch mit den zuvor Genannten, eine große Leidenschaft und sicher weitere: die High Line in New York City.
Diese ehemalige Hochbahntrasse aus den 1930er Jahren schlängelt sich parallel zum Hudson River auf mehreren Metern Höhe vom Meatpacking District über West Chelsea bis Hell’s Kitchen entlang historischer Industriebauten und klassischer Wohnhäuser, moderner Büropaläste und verfallener Lagerhallen. Ihre ursprüngliche Funktion war eher das genaue Gegenteil dessen, was die umwelt- und körperbewussten Gegenwarts-NewYorker begonnen haben, aus dieser Hochbahntrasse zu machen: Sie war schlicht eine Strecke für Güterzüge, die Vieh in das Schlachthofviertel transportierten. Praktisch, laut, rational, blutig.

Nach der Bahn ist vor dem Park

Als dann vor rund 30 Jahren der finale Zug mit gekühlten Schweinehälften und gefrorenem Geflügelallerlei über die Gleise rollte, wurde auch die Stilllegung der High Line praktisch und rational, aber dafür leise und unblutig abgewickelt – sie wurde einfach sich selbst überlassen.
Das sich immer wieder ereignende kleine Wunder, dass sich die Natur ihren Raum zurückerobert, ereignete sich bald auch inmitten der fast flächendeckend zugepflasterten Metropole. Das eintönige Schwarz und Grau der Gleise und Geländer wich Monat für Monat, Jahr für Jahr einer Vielfalt an Grün und Bunt, wurde überwachsen und unterwuchert von Blumen, Gräsern, Büschen und kleinen Bäumchen. Glück und Unglück wuchsen mit der sich wild vermehrenden Vegetation zusammen: Im verbotenen Dickicht – eigentlich war das Betreten der Gleisstrecken aus Sicherheitsgründen untersagt – wurden heimliche Küsse getauscht oder noch heimlichere Drogen aller Art und Auswirkung. «Als ich klein war, bin ich oft mit meinem Bruder dort oben gewesen», erinnert sich Ethan Hawke. «Es war ein magischer Ort.»
«Magisch» sind auch die Grundstückspreise in einer Stadt wie New York – und so wundert es nicht wirklich, dass auch der letzte verbliebene Streckenabschnitt der ursprünglich 21 km langen High Line von Investoren entdeckt wurde. Doch dann geschah etwas, was einen schon wundern kann: Obwohl bereits eine Abrissgenehmigung der Stadtverwaltung vorlag, gelang es einer Bürgerinitiative, den Friends of the High Line, gegründet von eben jenem Duo David und Hammond, Menschen und Moneten in widerständige Bewegung zu versetzen. Sie schrieben und schrien, argumentierten und alarmierten, erklärten ihre Ideen und überzeugten Anwohner, Stadtplaner und publikumswirksame Promis.
So auch Edward Norton, der alsVorstandsmitglied der «Friends» in der ein oder anderen Talkshow die Gelegenheit «missbrauchte», nicht nur Werbung für seine Filme zu machen, sondern von der Vision eines «Parks auf Stelzen» zu schwärmen. Es gibt durchaus sinnlosere Arten, seine Popularität zu nutzen.

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Fotos: © Maria A. Kafitz // Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern.

Dezent, elegant und unaufgeregt

Die Geschichte der alten Hochbahntrasse wurde zur Erfolgsgeschichte, denn nachdem im April 2006 Bürgermeister Bloomberg den symbolischen ersten Spatenstich mit den Worten, dies sei «ein besonderes Geschenk für die Zukunft unserer Stadt», gesetzt hatte, wurde bereits im Frühsommer 2009 der erste Abschnitt des Parks für die Besucher freigegeben und 2011 folgte der zweite. Den Titel «Life Enhancer of the Year», «Lebensverbesserer des Jahres», bekam der Park sogleich auch von der Zeitschrift Wallpaper verliehen. Nun ja, ob gleich das Leben verbessert wird, darf bei aller Sympathie für begeisterte Übertreibungen bezweifelt werden. Dass es aber zweifellos besser und entspannter ist, auf rund zehn Metern Höhe entlang der High Line zu flanieren, um von der Gansevoort Street im Süden des zauberhaften Stadtteils Chelsea nach Midtown Manhattan zu gelangen, ist selbsterlebte Wirklichkeit.
Derzeit (2012) kommt man bis zur 30. Straße, später soll es bis zur 34. Straße gehen – doch vielleicht bleibt auch der letzte überwucherte Teil einfach als Erinnerung an die alten Zeiten stehen.
Statt sich also durch den lastwagenbelasteten und taxigetackteten Großstadtverkehr zu schlagen, schlendert man lieber durch einen Park, der drei Ks zu erfüllen versucht: «Keep it simple, keep it quiet, keep it slow» – so lauteten die Vorgaben des Architekturwettbewerbs, den die Landschaftsarchitekten von James Corner Field Operations zusammen mit dem Architekturbüro Diller Scofidio + Renfro für sich entschieden. Wichtig war es gärtnerisch, jene Gräsersorten, Bäumschösslinge und Blumenarten zu integrieren, die ursprünglich von Winden und Vögeln auf die Trasse getragen wurden. Sie sind immer noch das grünende, blühende Herzstück, wenngleich sie ihre wilde Schönheit verloren und dafür schöne Formen erhalten haben. Vom Abfalleimer bis zur Sitzbank, vom Beet bis zur Freifläche vertraute man drei (Under-)Statements: dezent, elegant und unaufgeregt.
Im Gehen entlang der vergangenen Gleisstränge, die ab und an herausragen und wieder gegenwärtig werden, geht man zugleich am typischen New Yorker Gebäudesammelsurium entlang: Bauwerke von Stars wie Jean Nouvel und Frank Gehry stehen zwischen Graffiti besprühten Wohnblocks, Parkplätze, auf denen Autos übereinandergestapelt werden, wachsen neben riesigen Hallen in die Höhe, in denen all jene Besitztümer gelagert werden, für die in den winzigen, überteuerten Wohnungen kein Platz ist. Und wer eine gewisse Neugier in sich trägt, sein voyeuristisches Wesen nicht leugnen kann oder will, der darf gemütlich sehenden Schritts dem bekannten Auktionshaus Philipps de Pury in die kunstverhangenen Fenster schauen, in den Milk Studios bei Fotoproduktionen unfassbar «natürlichen» Schönheiten bei noch natürlicheren Posen zusehen oder im zweiten Stock eines der ungezählten Fitnessstudios schwitzenden und yogagebogenen New Yorkern auf Augenhöhe begegnen.
Ob es an den kontrastierenden Farben der Blumen und Gräser oder an der bewusst genommenen Blickruhe liegt, ist letztlich unerheblich – aber beim Spazieren auf der High Line wird noch unmittelbarer deutlich, dass New York entweder glas- und spiegelflächenblank oder backsteinbraun ist.

Spencer Finch ergänzt dieses Farbspektrum in seiner begehbaren Installation The River That Flows Both Ways um die Farben des Hudson Rivers, die in den 700 getönten Glasfenstern den Fluss bis zum Park anschwellen lassen. Ein guter Pausenort. Ein guter Platz für mindestens einen guten Kaffee, den es dort tatsächlich an einem kleinen, unabhängigen, starbucks- oder andersartig konzernbefreiten Stand gibt. Im Café stehen Tische und Stühle mit Aussicht bereit, aber jeder kann – für New York grenzt das fast an Anarchie – sich sein Picknick auch selbst mitbringen und nur die Sitzmöbel, nicht aber das dazugehörige Gastronomieangebot nutzen. Unter den Gleisen liegt übrigens der Chelsea Market, den zu besuchen es sich kulinarisch lohnt. Der Parkspaziergang danach bietet ja eine Möglichkeit zur Gewissensberuhigung.
So verschieden die über 200 Pflanzenarten sind, die liebevoll gehegt und umpflegt werden, so bunt sind auch die Besucherinnen und Besucher – besonders in einer Stadt wie dieser. Eine der momentan wohl schillerndsten Poppflänzchen hat die Bar des edlen Hotels The Standard, das über die High Line gebaut wurde, zu ihrem zweiten Wohnzimmer erkoren. Während sie tagsüber als Stefani Germanotta abgeschminkt und durchschnittsbekleidet mit den meisten Menschen eine Einheit bildet und unerkannt bleiben kann, so ändert sich dies in den Abend- und Nachtstunden. Wenn Lady Gaga in der Bar von The Standard nach Sonnenuntergang erscheint, haben diesen verliebte Pärchen oder romantische Einzelgänger auf der High Line unverbaut genossen. Wenn sie kurz vor Sonnenaufgang wieder entschwindet, erwachen die ersten Sportbessenen, um an den Parkaufgängen, die jedoch erst ab 7 Uhr geöffnet werden, mit ihren Turnschuhen zu scharren. Ein neuer Tag. Ein neues Eilen und Hetzen. Ein Termin verursacht den nächsten, und während allzeit und überall ein Smartphone via Kopfhörer im Ohr, vorm Augen und am Mund durch die Stadt getragen wird, ist eigentlich 24 Stunden keine Zeit für keinen.
New York, so heißt es in einem Lied, das der charmante, der unvergessene Frank Sinatra in unsere Ohren streichelte, sei die Stadt, die niemals schläft. Stimmt. Vielleicht kurz, ganz kurz – zwischen 4:30 und 5:15 Uhr hält sie für 45 Minuten den Atem an. Im Grunde aber schläft sie noch nicht mal dann, denn alles ist immer noch in spürbarer Bewegung. Manchmal aber, zehn Meter über dem Boden, inmitten grüner Stauden sieht man Einheimische, die auf Liegestühlen ein Buch lesen, stumm die Wolken betrachten und schlummern …