Christian Kaiser

Lob der Vielfalt

Nr 148 | April 2012

Im nördlichsten Winkel Deutschlands, im Land Angeln, an der Grenze zu Dänemark kann man einem Schatzhüter begegnen. Keine funkelnden Kleinode, keine goldenen Geschmeide hütet und hegt er, sondern alte Obstsorten. Bei Meinolf Hammerschmidt gibt es einige Hundert verschiedene Bäumchen unserer fast in Vergessenheit geratenen Obstsorten zu bestaunen, deren wieder entdeckte Schätze so launige Namen tragen wie «Finkenwerder Herbstprinz», «Kaiser Wilhelm», «Süderhexe», «Zitronenapfel», «Fettapfel» oder «Seidenhemdchen». Kleine, dicke, dünne, saure und süße, gelbe, grüne und rote Sorten gedeihen unter den gärtnerischen Händen dieses Überzeugungstäters, der ein Loblied auf die Vielfalt anstimmt, das auch künftig weitergesungen werden sollte.

In Angeln heißt es zu jeder Tages- und Nachtzeit: «Moin, Moin». Meinolf Hammer­schmidt kommt freundlich grüßend um die Ecke des Hofes in Winderatt. Der Westwind weht heute heftig im Norden Schleswig-Holsteins – Angeln zeigt dennoch seine malerischste Seite. Hinter dem sogenannten «Knick» stehen junge, kerzengerade Obstbäume in Reih und Glied. An der weiß gestrichenen Hauswand blühen die Obstspaliere, aus dem Fenster grüßt Ehefrau Karin. Nur im Windschatten kommt man in den Genuss der wärmenden Frühlingssonne. Das aufgeklappte Veredlungs­messer liegt frisch geschliffen auf dem Tischchen, gleich werde ich Zeuge der Veredelung werden, ein Bund Reiser wartet schon in der Gießkanne. Ein erster Schnitt, Hammerschmidt macht sich an die Arbeit. Nur durch das Veredeln erhält man die alten wohlschmeckenden Apfelsorten. Ohne diese Kunst müssten wir auf viele Sorten verzichten.
Hammerschmidts Augen leuchten, als er zu erzählen beginnt: «Wir hatten uns nach unserer Zeit als Entwicklungshelfer in Afrika in Flensburg niedergelassen. Die Lehrtätigkeit an der Uni ließ etwas Zeit für die ‹pomologische Forschung›, das Aufspüren alter Sorten übrig. In Angeln war mir zuerst die Vielfalt der lokalen, mir bis dahin noch unbekannten Obstsorten aufgefallen. Hier im Apfel­garten hinterm Haus, dem ‹Appelgarn›, den Karins Großvater im Jahr 1926 angelegt hatte, stieß ich auf den ‹Borsdorfer Apfel›, der aber fälschlich als ‹Bosdorfer› bezeichnet wurde. Ich begann zu forschen, fand in den umliegenden Obstgärten immer mehr verschollen geglaubte Sorten.»
Während der Aufbaujahre auf dem alten Hof in Winderatt setzte Meinolf Hammerschmidt seine Beratungstätigkeit als reisender Entwicklungshelfer in die Länder der Welt fort, aber nach vier bis acht Wochen kam er immer wieder nach Hause.
Im Schutz der Veranda werde ich in die spannende Kultur­geschichte des Apfels eingeweiht. Über die Dauer einer Million Jahre waren die Samen des Wildapfels von Tierherden aus dem Tienshan Gebirge weit nach Westen bis nach Obermesopotamien gelangt. Hirsche, Esel und Pferde halfen bei der Selektion der süßesten Sorten, deren Kerne im Verdauungstrakt der Huftiere erst keimfähig wurden. Die ausgetretenen Wildpfade wurden später zur Grundlage der Seiden­straße. Diese Theorie entwickelten englische Wissenschaftler und konnten mit Gentests ihre Richtigkeit nachweisen. Dass der saure kleine europäische Wildapfel Malus sylvestris nicht der Urahn unserer Speiseäpfel ist, war bis dahin nur ver­mutet worden. Sicher war immer, dass die heimischen Wildäpfel wenig genießbar sind.

  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
Fotos: © Christian Kaiser (www.kaiser-photography.de)

Schon die Römer hatten im Süden Deutschlands in ihren Forts am Limes Nutzgärten mit Gemüse und dem aus China stammenden Apfel angelegt. Das ließ sich an Speiseresten, die aus dieser Zeit erhalten sind, eindeutig nachweisen. Die ersten Kulturäpfel aber waren aus Mesopotamien mitgebracht worden. Mönche vermehrten sie in den Gärten der Abteien. Die Zisterzienser hatten bereits im 12. Jahrhundert in ihren Klöstern landwirtschaftliche Muster­be­triebe, sogenannte «Klosterhöfe» angegliedert. Dort entwickelten sie neben dem Weinbau auch die Kunst des Gartenbaus. Da über die Ergebnisse sorgfältig Buch geführt wurde, lassen sich Herkunft und Verbreitung einzelner Sorten zurückverfolgen.
In Winderatt drohte eine uralte Bergamotte eines Tages umzufallen, also rief man Hammerschmidt an. «Ich nahm ein paar Reiser ab und pfropfte sie auf einen jungen Birnenstamm auf.» Das Experi­ment gelang und die Nachricht sprach sich in Windeseile herum. So kamen immer mehr Leute aus der Umgebung zu ihm, oft mit einem Apfel in der Hand, mit der Bitte, die Sorte zu bestimmen und einen Ableger vom alten morschen Baum zu machen, bevor der Wind ihn umgeweht hätte.
Vor 30 Jahren legte Hammerschmidt schließlich seinen «Mutter­garten» an. Vor allem mit selten gewordenen lokalen Sorten, die ihm auf seinen Streifzügen in die Hände gefallen waren. «Später bekam ich Kontakt zu anderen Pomologen aus ganz Deutschland. Wir tauschten unser Wissen aus und gründeten 1991 den Pomologen Verein.» Längst ist daraus ein europaweites Netz von Obstfreunden geworden. «Ich fand immer mehr überraschende Geschichten über die Herkunft der Apfelsorten. Schon bei den alten Griechen spielt der Apfel eine Rolle: Im Garten der Hesperiden wachte Ladon, die vielköpfige Schlange, über die verbotenen goldenen Äpfel. Nur Herakles war mithilfe einer List in der Lage, diese Früchte zu rauben. Der Liebesapfel hat ja bis heute Konjunktur.»
Früher gab es viele Geschichten über den Apfel mit erotischen Nuancen. Hammerschmidt hat einige besonders schöne davon aufgeschrieben. «Wie man Menschen mit Geschichten für etwas begeistern kann, habe ich in Afrika gelernt», erklärt er schmunzelnd.
Eines Tages stand Hammerschmidt unter dem größten Apfelbaum, den er je zu Gesicht bekommen hatte. Er stand zwischen den anderen hohen Laubbäumen eines Parks. Unter ihm leuchtete ein dichter Teppich gelbroter Äpfel. «Ich stand einfach nur da und bewunderte diesen ganz besonderen Baum.» Was er da fand, war der lang gesuchte, verschollene «Angeliter Herrenapfel». Aus dem Sortiment der Händler war er nach der Einführung der Kauf­haussorten, im Gegensatz zu «Cox» und «Boskoop», rasch verschwunden. Die Begegnung mit dem Herrenapfel wurde zur Triebfeder Hammerschmidt’scher Sammelleidenschaft. «Der Apfel war so ein bisschen mein persönlicher Auftraggeber für den Erhalt der alten regionalen Apfelsorten geworden.» Doch nachdem er davon viele junge Bäume nachgezogen hatte, kamen ihm Be­denken wegen der strengen pflanzengesundheitlichen Vorschriften. Diese zielen eher darauf, die Gesundheit des modernen Plantagenobstes zu sichern, und weniger, die alten Sorten zu erhalten.
Hammerschmidt kommt während der Arbeit in Erzählen, nicht nur von den Äpfeln, sondern auch von seiner Jugend im Nachkriegsdeutschland: «Ich wuchs in einer katholischen Großfamilie im Sauerland auf und lernte den Beruf des Gärtners. Während der Bundeswehrzeit in Mittenwald bekam ich von meiner Mutter eine Postkarte mit dem Hinweis auf den neu gegründeten DED, den Deutschen Entwicklungsdienst. Ich war jung und wollte etwas von der Welt sehen, also bewarb ich mich.» Doch erst als frisch gebackener Gärtnermeister konnte er ein Jahr später als Entwicklungshelfer in den Sahelgürtel ziehen. «Im Niger lernte ich viel von der Denk- und Arbeitsweise der Einheimischen, wurde dort – jung wie ich war – ein zweites Mal sozialisiert.» Es wurden zwei Jahre erfolgreicher Mitarbeit in einer Obstbaumschule in der kargen Region südlich der Sahara. «Aus der Ferne beobachtete ich 1968 über meinen Weltempfänger die Studentenrevolten in Europa. Bei meiner Arbeit kam ich mit verschiedenen Missionsstationen in Berührung, fand jedoch deren Umgang mit den Einheimischen zum Teil merkwürdig und ging auf Abstand. Am Ende des Nigeraufenthaltes bewarb ich mich erneut für eine Tätigkeit in der sogenannten ‹Dritten Welt›. Diesmal für ein landwirtschaftliches Projekt an der Elfenbeinküste.»

In diesem Projekt lernte Hammerschmidt auch seine Frau Karin kennen, die als Entwicklungshelferin in dem kleinen Ortskrankenhaus im Programm der «Mutter-Kind-Beratung» arbeitete. Zurück in Deutschland nutzte er das Studium der Biologie, Geographie und Landwirtschaft in Göttingen nicht zuletzt auch deshalb, um die Erfahrung aus der Praxis wissenschaftlich zu vertiefen. Danach ging es erneut – jetzt mit zwei kleinen Kindern – nach Afrika, in den Senegal, wo er am Aufbau einer Bauernorganisation und an der Ausbildung von zukünftigen landwirtschaftlichen Beratern mitarbeitete. Viele Hilfsorganisationen unterhielten in Afrika Projekte, verfolgten dabei oft eigene Ziele und manchmal auch, «so ganz nebenher», wirtschaftliche Interessen. So verteilten beispielsweise amerikanische Hilfsorganisationen Saatgut von «modernen» Reissorten an die afrikanischen Kleinbauern, die daraufhin ihre traditionellen und bewährten Sorten aufgaben. Aller­dings waren die neuen Sorten im Gegensatz zu den heimischen nicht an die zum Teil versalzenen Böden angepasst – und versagten nach kurzer Zeit mit allen Konsequenzen für die Menschen. Außerdem muss F1-Hybrid-Saatgut immer neu gekauft werden und konnte vom Bauern entsprechend der Tradition nicht nachgebaut werden. Die Erkenntnis aus diesen Beobachtungen prägte das Denken von Meinolf und Karin Hammerschmidt und wurde zur Grundlage für ihr Leben – ein Leben für die Vielfalt und Rettung und Verteidigung der alten Sorten.
Hammerschmidt stellt seine Leiter an einen Stamm, klettert rasch hinauf in den hohen alten Apfelbaum, um dort ein letztes Edelreis zu schneiden. «Und wo stand nun der erste Borsdorfer Apfelbaum, der noch heute recht häufig in Deutschland zu finden ist?», will ich wissen. Die Literatur nennt diesen Apfel «ächt deutschen Ur­sprungs», so schrieb es schon Johannes Andresen, Lehrer für Obst­baumzucht am Seminar zu Tondern, im Jahr 1835. Dörfer mit dem Namen Borsdorf gibt es mehrfach in Deutschland. Wo also findet sich der nachweisliche Ursprung, der seinerzeit so beliebt und verbreitet in Europa war?
In den Schriften der Zisterzienserklöster wird der «Borsdorfer» im 12. Jahrhundert als deren Haussorte genannt. In einem dieser Klöster muss nach Angaben aus der Literatur die Sorte ent­standen sein. Hammerschmidt fuhr ins Saaletal bei Jena. Dort im Archiv bekam er Auskunft über die Mönche von Porstendorf, früher hieß es Borsdorf. Der Klosterhof Borsdorf gehörte zum Stift Pforta, was sich auch in einem Beinamen des Borsdorfer Apfels niederschlägt: «Apfel aus Pforta». Hier in dem malerischen Saaletal nahe dem Ort Dornburg hatten die Mönche ein ideales Klima für ihren Wein- und Obstanbau gefunden. Und von hier trugen sie den Borsdorfer Apfel in alle Regionen Europas. Der Klosterhof zu Borsdorf hat die Zeit der Reformation nicht überdauert, sonst hätte Johann Wolfgang von Goethe sich auch hier auf seinen Reisen durch das Saaletal ausruhen können – und sicher einen Apfel genossen.
Gerne würde ich weitere Apfelgeschichten hören, doch es gibt noch viel zu entdecken in dieser besonderen Baumschule. Zwischen Obstspalieren, hinter schützenden Hecken laden Bänke zu einer Pause ein. Namen schwirren wie Bienen durchs Gelände: «Finken­werder Herbstprinz», «Kaiser Wilhelm» und «Fürst Blücher» stehen mit Lokalpatrioten aus Angeln wie «Grund­hofer Streifling», «Jessen­apfel» oder «Süderhexe» da. Hier erblühen gerade «Jungfernapfel» und «Nonnentittchen», dort «Bischofsmütze», «Rote Walze» und «Sommer­taube», um nur einige Namen zu nennen.
Schon dämmert es, ein Kolkrabenpaar ruft vom nahen Wald herüber, auf dem Gartentisch liegt ein kariertes Tischtuch. Darauf stehen ein paar Gläser und eine gefüllte Karaffe. Die letzten Be­sucher des Tages werden zu einem Glas Apfelmost eingeladen:?«Prost Appeltied» – für heute schließt das Obstmuseum seine Pforten.