Ulrich Wickert im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Warum wir Werte brauchen

Nr 149 | Mai 2012

Er ist wohl jedem Erwachsenen in der Bundesrepublik bekannt, denn er war bis 2006 der beliebteste Moderator der abendlichen «Tagesthemen». Aber Ulrich Wickert ist auch wegen seiner Sachlichkeit, seines feinen Humors und seines sozialen Engagements einer der geschätztesten Journalisten Deutschlands. Die Palette seiner Veröffent­lichungen belegt zudem sein umfassendes und vielseitiges Interesse an Menschen und Themen: Er schreibt erfolgreiche Sachbücher, aber auch Kriminalromane mit dem Untersuchungs­richter Jacques Ricou als Hauptfigur. Immer wieder wandte er sich in den letzten Jahren gesellschaftlichen Themen zu, die Erfahrungen vieler Menschen thematisieren mit Titeln wie «Der Ehrliche ist der Dumme», «Gauner muss man Gauner nennen» und als bisher letztes «Redet Geld, schweigt die Welt. Was uns Werte wert sein müssen».

Ulrich Wickert begründet, warum wir Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität brauchen, und zeigt an Beispielen aus dem Wirtschaftsbereich, wie wir ihrer Ver­wirklichung näher kommen können. Werte sind die Grundlage unseres Zusammenlebens, müssen aber von jeder Kultur, jeder Generation neu gedacht und gestaltet werden.

Doris Kleinau-Metzler | Herr Wickert, was verstehen Sie unter einem «Wert»?

Ulrich Wickert | Der Begriff «Wert» bezeichnete ursprünglich den Tausch-Wert einer Ware. Wenn ich heute von der Bedeutung der Werte spreche, sind damit aber gesellschaftliche Regeln gemeint, die man auch ethische Werte nennt. Das spiegelt sich in gesellschaftlichen Normen und Gesetzen und auch in Prinzipien der Lebens­führung wider, die sich aus der gegenseitigen Verantwortung er­geben. Diese Werte sind durch die nationale Identität, die Kultur und die Religion beeinflusst, ebenso wie von Geschichte und politischen Strukturen. Zu den grundlegenden Werten, die in fast allen Kulturen, aber auch von jedem Einzelnen geschätzt werden, ge­hören Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Für mich ist entscheidend, dass diese Werte nicht aus einem Glauben kommen, sondern aus der Einsicht in ihren Sinn, also aus dem Denken darüber.

DKM | Hat der einzelne Mensch überhaupt Anteil an diesem gesellschaftlichen Prozess?

UW | Das Verhalten des Einzelnen hat immer wieder Rück­wirkungen in der Gesellschaft. Manchmal führt gemeinsames Ver­halten vieler Einzelner (wie ein Kaufboykott) sogar dazu, dass Welt­konzerne wie Shell von ihrem ursprünglichen Vorhaben ab­­gehen – nämlich die Ölplattform «Brent Spar» vor der Küste von Groß­britannien zu versenken. Auch jeder Einzelne wendet gesellschaftliche Regeln im sozialen Miteinander an und erwartet, dass sie ihm gegenüber eingehalten werden. Sonst wäre ein Umgang miteinander, eine offene Kommunikation gar nicht möglich.

DKM | Werden bestimmte Werte in Frankreich, wo Sie zeitweise leben, und Deutschland anders gesehen, beispielsweise in der Er­ziehung?

UW | Erziehung ist zunächst eine Frage der Bildung der Eltern. Aber auch hierbei spielen Werte eine entscheidende Rolle: Gerechtigkeit ist in Frankreich aufgrund des historischen Hintergrundes (mit der Französischen Revolution) ein wichtiger Aspekt. Deshalb ist es für Franzosen sehr wichtig, dass alle Kinder möglichst gleiche und damit gerechte Chancen in der Bildung haben. Und die Ausgangsbe­dingungen für Arbeiterkinder werden besser, wenn sie so früh wie möglich in staatlichen Institutionen betreut werden (weil ihre Eltern in der Regel nicht so viele private Fördermöglichkeiten haben). In Deutschland argumentiert man eher vom Bürgerkind und der Freiheit der Eltern her – obwohl es mehr Arbeiterkinder als Bürgerkinder gibt. Die Gleichheit, die Gerechtigkeit haben also in einem spezifischen Bereich in Deutschland und in Frankreich eine andere Priorität.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

DKM | Welche Werte haben Sie selbst in ihrem Leben geprägt, Herr Wickert?

UW | Ich denke, dass ich stark durch den Begriff der Freiheit geprägt bin, da ich entscheidende Jahre aufgrund eines Stipen­diums in den USA studieren konnte. Auch bei diesem Wert, der Freiheit, gibt es unterschiedliche nationale Schwerpunkte: In Deutsch­land wird der Begriff Freiheit traditionell mehr mit Gleich­heit verbunden und ist dadurch begrenzt. In den Vereinigten Staaten ist die Freiheit des Einzelnen grundlegend. Bei den Amerikanern heißt es im Wirtschaftsbereich: «Ich versuche es und fange von unten an, um meine Idee zu verwirklichen.» Und man gesteht jedem mehrere Versuche zu. Bei uns in Deutschland ist es eher so, dass derjenige als Versager gilt, bei dem sich nicht gleich der Erfolg einstellt. «Das haben wir noch nie so gemacht! Das gibt es nicht! Das geht nicht!», hat wohl jeder schon gehört.

DKM | Welche Bedeutung hat der Wert «Gerechtigkeit» für Sie im Wirtschaftsbereich?

UW | Im Wirtschaftsbereich ist die Frage der Gerechtigkeit natürlich auch immer eine Frage nach der Gerechtigkeit der Verteilung – und damit auch die nach dem gerechten Lohn für eine Arbeit. Bereits der Wirtschaftstheoretiker Adam Smith sagte: «Ein Arbeiter muss so viel verdienen, dass er seine Familie mit seinem Lohn ernähren kann.» Aber in Deutschland gibt es 1,4 Millionen Menschen, die noch zusätzlich staatliche Unterstützung für sich oder ihre Familie benötigen. Deshalb ist für mich die Einführung des Mindestlohnes notwendig und gerecht. Man kann sich auch entsprechend die Frage stellen, ob es gerecht ist, was manche Manager verdienen. Einerseits kommt es sicher auf den Einzelfall an, aber wenn man in so einem reichen Land wie Deutschland lebt und die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird, dann stimmt etwas bei der Verteilung des Wohlstandes nicht, denn alle, auch die Arbeiter, tragen ja zum Wohlstand bei. Dennoch bin ich nicht für höhere Steuern, sondern dafür, mit der Gerechtigkeit, der Verteilung des Gewinns, früher anzufangen – nämlich da, wo produziert und Gewinn gemacht wird: Das heißt, alle, die arbeiten, sollten am Gewinn eines Unternehmens beteiligt werden. In einigen Unternehmen wird dies bereits praktiziert.

DKM | Im Bereich der Wirtschaft scheinen sich die Werte «Freiheit» und «Gerechtigkeit» manchmal zu widersprechen, denn manche Unternehmer würden sich durch Mindestlohn und Vorgaben zur Gewinnbeteiligung in ihrer unternehmerischen Freiheit eingeschränkt sehen.

UW | Sicher ist das so. Aber es gibt immer Konflikte zwischen verschiedenen Werten, die im gesellschaftlichen Diskussionsprozess unterschiedlich bewertet werden und gesetzlich geregelt werden müssen. Im Grundgesetz steht: Eigentum verpflichtet. Und es gibt bei allen Werten immer ein Konfliktfeld zwischen dem Individuum und dem Gemeinwohl. In den USA heißt es: Der Unternehmer hat alle Freiheit. In Deutschland ist die Verantwortung des Unter­nehmers, besonders in mittelständischen, eigentümergeführten Betrieben, stärker verankert; sogar für die Region, in der das Unter­nehmen ansässig ist, übernehmen manche Unternehmen Verant­wortung (wie Phoenix Contact). Das ist freiwillig und stärkt die Gemeinschaft.

DKM | Mitarbeiter in großen Unternehmen erleben oft eine gewisse Diskrepanz zwischen dem, was die Geschäftsführung sagt, und ihrem Alltag, in dem Werte wie Solidarität und Verant­wortung nicht so viel gelten.

UW | Ja, letztlich ist es entscheidend, inwieweit ein Unternehmen die Einhaltung von gemeinsamen Werten von seinen Mitarbeitern fordert und vor allen Dingen auch konsequent durchsetzt. Dass dies möglich ist, zeigen Beispiele wie der Otto-Versand und Danone. Danone, ein weltweit tätiges Unternehmen mit 80.000 Mitarbeitern, hat seit über 30 Jahren Unternehmensrichtlinien, die an ethischen Werten ausgerichtet sind. Die Führungskräfte sind verantwortlich für die «ethic audits» in ihrem Bereich (Überprüfung, ob die ethischen Vorgaben angewandt werden, wie beispielweise die nachweisbare Förderung der Mitarbeiter) und werden entsprechend nicht allein an ihrem wirtschaftlichen Erfolg gemessen, sondern auch konkret daran, wie weit sie die ethischen Vorgaben umgesetzt haben: Das heißt, wer nichts dafür tut, bekommt am Ende des Jahres entsprechend weniger Boni ausgezahlt. Es gibt viele Beispiele, die belegen, dass sich etwas ändert, wenn ein Unternehmen ganz konkret etwas tut, um ein ethisches Ziel zu erreichen.

DKM | Also ist Geld, Gewinn, nicht das einzige Motiv, um tätig zu werden?

UW | Es gibt unglaublich viele Motive von Menschen, die man hier gar nicht alle aufzählen kann. Manche Menschen schreiben Gedichte, sehr schöne Gedichte, und können von dem Erlös der wenigen Exemplare, die bei Gedichtbänden verkauft werden, nicht leben – und schreiben trotzdem weiter. Jemand, der das Ziel hat, viel Geld zu verdienen, wird Investmentbanker, aber es gibt sehr viele Tätigkeiten, Berufe, die Menschen aus unterschiedlichem Interesse ausüben. Dazu zähle ich auch den Politikbereich, denn selbst die Bundeskanzlerin verdient nicht so viel Geld wie der Vorstand einer mittelgroßen Bank. Menschen wollen etwas gestalten, bestimmte Inhalte umsetzen, Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen.

DKM | Vor der Gestaltung, dem aktiven Tun steht das Denken. Das heißt, erst wenn sich das Denken ändert, ändert sich auch das Handeln, wie Sie in Ihrem Buch Redet Geld, schweigt die Welt schreiben. Aber wie ändert sich das Denken oder die Vorstellung?

UW | Auch durch Krisen kommt vieles in Bewegung. Das beste Beispiel dafür ist die letzte Finanzkrise, welche die Orientierung an den kurzfristigen Gewinnen und die Frage der Werte, die für den Staat, die Gesellschaft wichtig sind, in den Vordergrund gerückt hat. In den Regierungen vieler Länder hat ein Denkprozess begonnen, teilweise auch mit dem Ziel, strengere Regelungen für den Finanzmarkt einzuführen. Aber es ist auch wichtig, bereits im Vorfeld, bei der Ausbildung der Fachleute an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten, Wirtschaftsethik einzubeziehen – als Pflichtfach.

DKM | Und was kann jeder Einzelne tun, um nicht zu erstarren, um sein Denken in Bewegung zu bringen?

UW | Lesen Sie Bücher und diskutieren Sie mit anderen Menschen. Besonders wenn man etwas liest und damit nicht einverstanden ist, ist das eine gute Auseinandersetzung mit anderen Ideen und Argumenten. Die Frage der gesellschaftlichen Werte muss zudem mit jeder Generation neu diskutiert werden, denn der Mensch kommt zur Welt und weiß nichts von Gut und Böse. Aber bereits kleine Kinder entwickeln schnell ein Gespür dafür, was gerechtes Handeln ist. Deshalb ist es wichtig, diese Haltung durch Erziehung voranzutreiben, von den Eltern und in der Schule. Kinder brauchen Vorbilder, und ich habe den Eindruck, dass in dieser Hinsicht in unserer Gesellschaft derzeit etwas in Bewegung kommt.