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Marie Bertherat

Ein Sommer am Montparnasse

Nr 150 | Juni 2012

gelesen von Simone Lambert

Der Tag, als Jimi Hendrix starb, war auch der Todestag für Mouchkas Mutter Nina. Ein Kaufhausdieb mit Donald Duck-Maske schleuderte ein Messer nach ihr, als sie ihn foto­grafierte. Sieben Jahre später setzen die Ereignisse Ninas Tod in ein neues Licht, wenn Mouchka und Gabriel sich ineinander verlieben.
Michel Fugain, das Hotel California, Schlaghosen, die Straßen von San Francisco: Im Sommer 1977 in Paris wirkt noch der Hippie­zauber. Der sechzehnjährige Gabriel bemalt in der Traumboutique von Mister Chance antike Kommoden mit poppig-psychedelischen Motiven, als Mouchka, fast vierzehn, im Laden auftaucht. Für Mouchka ist es eine dramatische Zeit, denn sie hat das Tagebuch ihrer Mutter entdeckt. Ninas knappe, lakonische, poetische Notate entdecken ihrer Tochter Details ihrer ungewöhnlichen Biografie, die Mouchkas Leben und das ihrer Familie verändern werden.
Der Roman erzählt aus wechselnden Perspektiven eine geradezu märchenhafte Geschichte, die von den politischen Verwerfungen im Europa des 20. Jahrhunderts gezeichnet ist. Als Kriegswaise wuchs Nina in einem Dorf hinter Moskau bei ihrer Tante auf, die ihr die Leica ihres verschwundenen Verlobten schenkt. Mit sechzehn fährt Nina nach Leningrad, schlägt sich dort durch und wird zur Fotografin des Kirow-Balletts durch die Freundschaft mit einem jungen Tänzer: Rudolf Nurejew. Als die Truppe für eine Tournee in den Westen reist, ist auch Nina im Gefolge. Wie Ernst Lubitsch in seiner Filmkomödie Ninotschka russische Kommunisten auf amüsante Weise den Verführungen des Kapitalismus aussetzt, so schildert auch Marie Bertherat Ninas Weg aus einem russischen Dorf in die Metropole Paris in pittoresken, kontrastreichen Szenen. Gekonnt kreuzt die Autorin Fiktion und Realität, wenn sie beispielsweise Rudolf Nurejews Flucht ins künstlerische Exil Frankreich von Nina fotografieren lässt und der Aufnahme Welt­ruhm andichtet.
Aber auch Gabriel wird mit der Vergangenheit konfrontiert, denn sein verschollener Vater stirbt in Afrika. Das Lügengebäude, das ihn umgab, bricht nun zusammen. Gabriel findet heraus, dass die Polizei gegen seinen Vater ermittelte. Er stellt eigene Nach­forschungen an und deckt ein entsetzliches Geheimnis auf, das seine Zukunft zu zerstören droht …
Das sind die melodramatischen Momente in diesem bezaubernden Sommerroman mit all seinen amourösen Verwicklungen. Im Zentrum der Geschichte aber steht jenes bizarre Duell zwischen der jungen Künstlerin und ihrem Mörder. Zwei Leichtsinnige
stehen sich da gegenüber, die Waffe des einen ist ein Messer, die der anderen die Kamera. Ihre Fotografie behält der eitle Täter ein Leben lang bei sich: selbst der Untat haftet durch ein gutes Bild Ruhm und Dauer an.
«Die Fotografie hält die Zeit fest. Die Fotografie hält das Leben an. Die Fotografie ist magisch. Die Fotografie ist eine gefährliche Sache.» Das sind die Sätze, die Ninas Leben mit der Kamera be­gleiten. Marie Bertherat bezieht sich hier auf Überlegungen des Poststrukturalisten Roland Barthes zur Fotografie und verwurzelt so ihren Jugendroman in faszinierenden philosophischen Be­trachtungen. Mouchka wird erkennen, dass das Bild die Wahrheit ebenso enthüllt wie verfälscht; ihr Lebensweg, der Fäden über ganz Europa spannt, wird sich der Verbindung der Völker widmen – und, selbstverständlich, der Liebe.

Der Roman erzählt aus wechselnden Perspektiven eine geradezu märchenhafte Geschichte, die von den politischen Verwerfungen im Europa des 20. Jahrhunderts gezeichnet ist – und der Liebe.