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Kenneth Grahame

Nr 150 | Juni 2012

«In einem Boot über das Wasser schippern … immer weiter …»

An der Themse hielt sich Kenneth Grahame immer gern auf, entweder spazierend an ihren Ufern oder rudernd auf dem Wasser. Dort erholte er sich immer wieder, als Kind wie als Erwachsener, von den vielen nicht eben erfreulichen Aspekten seines Lebens, angefangen beim frühen Tod der Mutter und der Alkoholsucht des Vaters, über die Unmöglichkeit, sich seinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen und an der Universität Oxford zu studieren, bis hin zu einer unglücklichen Ehe und ihren – wenn man so will – tragischen Folgen.
Die Universität blieb Grahame aus finanziellen Gründen verwehrt, stattdessen begann er als 20-Jähriger in der Bank of England zu arbeiten – eine Arbeit, wie sie ihm kaum hätte ferner liegen können, und dennoch brachte er es dort bis zum Geschäftsführer. Eigenen Äußerungen zufolge war ihm die tägliche Routine allerdings schon nach einigen Jahren so unerträglich, dass er sich wann immer es ging in seine Wohnung zurückzog und begann, Essays und Kurzgeschichten zu schreiben. Mit 40 Jahren wurde er Vater, und glaubt man den Biografen, hat er seinen Sohn nach allen Regeln der Einzelkinderziehung verwöhnt. Vor allem aber erzählte er ihm leidenschaftlich gern Geschichten von einer besseren Welt – und das war für ihn oft die Welt des Waldes und der Themse.
Nach beinahe 30 Jahren in der Bank beendete er diesen Lebens­abschnitt endgültig und zog zurück aufs Land, nicht zuletzt, um hier die Eindrücke seiner Jugendzeit wieder aufzufrischen und sich ganz dem Schreiben zu widmen. So erschien schon ein Jahr später (1908) sein berühmtestes Buch: Der Wind in den Weiden, das aus Gute-Nacht-Geschichten entstand, die Grahame seinem Sohn erzählte. Es war nicht seine erste Veröffentlichung, auf jeden Fall aber das Werk, mit dem er berühmt wurde, das jedes Kind in England kennt und das noch heute ein wahrer Kinderbuchklassiker ist.
Die Tiere, die er und sein Sohn bei ihren ausgedehnten Spazier­gängen sahen, wurden zu den Helden seiner Geschichte: Der Maulwurf, die Wasserratte, der Kröterich und der Dachs – allesamt eher scheue Zeitgenossen, denen man nicht bei jeder Wanderung begegnet.
Auch Grahame selbst war alles andere als ein Mann der Gesell­schaft, und so lebte er seine Vorstellungen vom sozialen Mitein­ander zum Teil in den Erlebnissen seiner Figuren aus. Sie repräsentieren die Werte, die ihm wichtig waren und die er seinem Sohn und anderen Kindern, die er als «die einzig wirklich lebendigen Menschen» bezeichnete, vermitteln wollte: Freund­schaft, Weisheit, Aufrichtigkeit – und den Genuss am Leben.
Dass ihm dies hervorragend gelungen ist, zeigt sich unter anderem daran, dass Der Wind in den Weiden auch über hundert Jahre nach seinem Erscheinen nichts an seiner Bedeutung verloren hat, wie unter anderem eine filmische Bearbeitung der ehemaligen Monty-Python-Mitglieder Terry Jones, Michael Palin und John Cleese beweist.

Von Michael Stehle


Geboren am 8. März 1859 in Edinburgh, jährt sich am 6. Juli 2012 der Todestag von Kenneth Grahames zum 80. Mal.