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Erika Beltle

Mit der unerschöpflichen Lust am Denken

Nr 150 | Juni 2012

Es ist eine besondere Lust, die Welt in ihrer Rätselhaftigkeit und Schönheit in Reim und Rhythmus einzufangen und für das Denken kunstvoll darzubieten. Erika Beltle hat sich diesem Vergnügen wieder einmal intensiv und für sie selbst nochmals überraschend hingegeben. Mit neunzig Jahren hat sie innerhalb weniger Wochen «100 neue Rätsel für Neugierige» geschaffen und einen siebten und, wie sie betont, letzten Band uns Jüngeren geschenkt, damit auch wir die unerschöpfliche Heiterkeit des Denkens genießen können. Sie zeigen uns die ganze Welt, wie das 50. Rätsel im neuen Band erklärt:
Sie zeigen uns die ganze Welt, / schickt man durch sie / den Zweiten aus, / der bringt, wenn er sich wach erhält, / die Schätze dann zurück ins Haus. / Vereint ist er unendlich klein. / Weil messbar nicht / der Dauer Frist, / kann man ihn denkend / kaum verstehn; / jedoch, was je entstanden ist, / das konnte nur in ihm entstehn.
So geistesgegenwärtig ist die am 19. Februar 1921 in Stuttgart mit Mädchen­namen Wagner geborene Erika Beltle, die immer noch das lebendige Gespräch um Philosophie und Anthroposophie sucht und mit ihren Freunden und Verwandten pflegt. Wahrheit und Dichtung, das sind die zwei ausgeprägtesten Leidenschaften ihres Lebens – neben der Liebe zu ihrem Mann Theodor Beltle, dem früheren Leiter und Inhaber der Ahoj-Brause-Fabrik Frigeo. Mit Theodor Beltle, den sie am 1. Mai 1940 kennengelernt hatte, führte sie in den Kriegsjahren einen zutiefst bewegenden Briefwechsel, der in dem Band Für Dich will ich leben erschienen ist. Ihr Tun und Trachten ist stets dem zugewandt, was als Lösung des 16. Rätsels aufscheint:
Erstes sagt, es ist darin. / Zweites gibt den Dingen Festig­keit, / Ganzer einem Buch den Sinn. / Was verpackt in Läden steht, / hat ihn. Und zur Ferienzeit / jeder Koffer, der auf Reisen geht.
Sie kennt aber sehr wohl auch die Versuchungen und nützlichen Handhabungen des Lebens, wie das 19. Rätsel bezeugt:
Sie wird gebraucht, / um unbemerkt / von andern / etwas zu erreichen. / Hängt man, / was hier sehr nützlich ist, / an ihren Schluss / ein kleines Zeichen, / bewirkt sie, / dass man nichts vergisst.
Wer mit Erika Beltle je enger zu tun hatte, weiß eine ihrer besonderen Tugenden sehr zu schätzen, die sie im 67. ihrer neuen Rätsel ausspricht:
Steht man fest auf seinen Füßen, / hat man, was im Leben not. / In der Zweiten muss man büßen, / wie der Richter es gebot. / Wer nicht nach dem Wind sich dreht, / stets zu seinem Worte steht / und die Wahrheit nie vergisst, / zeigt, dass er das Ganze ist.
Mit ihrem siebten Rätselband möchte sich Erika Beltle ausdrücklich von ihren alten und neuen Rätselfreunden verabschieden. Damit hat sie uns in sieben Bänden ganze 740 verlockende Rätselnüsse zu genüsslichem Knacken überlassen! Wir möchten uns aber so bald von ihr noch nicht verabschieden, sondern bei jedem wiederkehrenden Verzehr ihrer kunstvoll gesetzten Denkaufgaben dankbar für so viel unerschöpfliche Lust am Denken sein. – Mit dem 14., titelgebenden Rätsel verneigen wir uns in diesem Monat Juni vor der vorbildlichen Dichterin:
Eine Summe ist’s / und auch ein Tun. / Zweiter ist ein Mann, / des’ Hände ruhn. / Niemals spricht er / und er lächelt nie. / Ganzer ist ein Tag / der Prophetie, / sagend, wie das Wetter wird, / was auch stimmt, / wenn er nicht irrt.

Von Jean-Claude Lin