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Gudrun Burkhard

Nr 151 | Juli 2012

Und jedem Alter wohnt ein Zauber inne

Ich wurde in São Paulo, Brasilien, am 14. Dezember 1929 geboren, wuchs zweisprachig – deutsch und portugiesisch – auf. Mit 12 Jahren wusste ich, dass ich Medizin studieren wollte, mit 18 ging ich an die Universität. Hier begeisterten mich die wissenschaftlichen Fächer, ganz besonders die Histologie: Am Mikroskop sah ich in den Zellen eine ganze Sternenwelt!
Nach der Universität entschloss ich mich, Anthroposophische Medizin an der Ita Wegman Klinik zu studieren. Es folgten noch eine Ausbildung in Heileurythmie, Rhythmischer Massage und Kunsttherapie.
In meiner Praxis in São Paolo hatte ich immer wieder mit Patienten zu tun, die mit denselben Problemen kamen, was mich dazu ver­anlasste, die Biographie des Einzelnen näher zu betrachten.
Als ich Bernard Lievegoeds Arbeit an den Lebensphasen kennenlernte, nahm ich dies mit Begeisterung auf und wendete es sogleich an. Erst zwölf Jahre danach lernte ich durch Hellmuth J. ten Siethoff die Biographiearbeit kennen. Ab 1976 habe ich dann mit meinem zweiten Mann eine Systematisierung dieser Arbeit ausgearbeitet und sie mit Beratungskunden und Patienten durchgeführt. So entstanden regelmäßige Biographieseminare und später eine regel­rechte berufsbegleitende Ausbildung zur Biographiearbeit.
Als die Biographiearbeit in Deutschland Fuß fasste, bat mich der Verlag Freies Geistesleben, darüber ein Buch (Das Leben in die Hand nehmen) zu schreiben. Die Anthroposophie bildet dabei den Hinter­grund, doch habe ich mich immer bemüht, die verschiedenen Themen so auszuführen, dass jeder einen Zugang dazu haben kann.
In São Paulo gründeten wir ein eigenes Zentrum, die «Artemisia», in dem über dreißig Jahre Biographiearbeit stattfand. Als ich 68 Jahre alt war, und mein Mann sich aus gesundheitlichen Gründen von der Betriebsberatung zurückziehen wollte, siedelten wir nach Florianópolis um.
Mit unserem Umzug wollten wir ein ruhiges Leben auf der schönen, von Natur umgebenen Insel Santa Catarina beginnen. Mein Mann kaufte ein Boot und ein Ferienhäuschen – es war wunderbar.
Die Anthroposophische Medizin war hier sehr rückständig, ich engagierte mich mit den hiesigen Kollegen, die «Clínica Vialis» aufzubauen und die «Associação Sagres» zu gründen, wo viele Kurse entstanden und ich zwölf Jahre tätig war.
Mit 70 Jahren hatte ich das Gefühl, meine Aufgabe wäre getan – aber siehe, zwischen 70 und 81 Jahren war ich noch sehr engagiert und tätig. Aber etwas sollte sich doch wandeln: Ein Zusammenstoß meines Autos mit einem Motorrad löste eine Serie von gesundheitlichen Störungen aus, sodass ich alle Kurse und Vorträge für das Jahr 2011 zunächst absagen musste. Ich war ans Haus gebunden und widmete mich nun wieder der schriftstellerischen Arbeit. Nach all den Biographiebüchern hatte ich mich seit dem 75. Lebensjahr mehr dem Thema «Karma» gewidmet und Die Fundamente der karmischen Forschung auf Portugiesisch publiziert. Nun arbeite ich am Buch Über die karmischen Metamorphosen. In Brasilien fehlt uns noch viel Literatur und so hoffe ich, diesen Beitrag geben zu können.
Ab dem 80. Lebensjahr muss man sich aber völlig umstellen. Man wird wirklich mit dem Tod konfrontiert und der großen Aufgabe, im Krankheitsfall die Todesangst zu überwinden und sich vielleicht den Tod zum Freunde zu machen – oder mit noch mehr Gelassenheit es so zu nehmen, wie es kommt, sich wirklich zu freuen an den kleinen Eroberungen und Wundern, die der Tag bringt. Und man kann lernen, in tiefer Dankbarkeit hinzunehmen, dass das Altwerden zu zweit, uns noch vor ganz neue Aufgaben stellt.