Wilhelm Ripl im Gespräch mit Ralf Lilienthal

Genau richtig, für diesen Ort, für diese Zeit

Nr 152 | August 2012

Frankfurt am Main, Köln am Rhein, Konstanz am Bodensee – für Mitteleuropäer ist es nicht weiter aufregend, an einem Gewässer zu wohnen. Warum auch? Bäche, Flüsse und Seen gehören in unseren Breiten einfach «dazu», es gibt keinen Mangel daran. Welche Bedeutung den Süßgewässern der Erde zukommt und künftig immer mehr zukommen sollte, lässt sich im Gespräch mit dem emeritierten Prof. Dr. Wilhelm Ripl erahnen. Geboren an der Ybbs – die gibt es wirklich und sie fließt in Österreich in die Donau – im schönen niederösterreichischen Städtchen Waidhofen, landete Ripl irgendwann im Land der tausend Seen und wurde Limnologe, also Süßwasserkundler. Und weil er einer ist, der über die Grenzen seiner Wissenschaft hinausdenken wollte und konnte, brachte ihm seine Süßwasserperspektive reichlich Einsichten in die gängigen Klimamodelle und darüber hinaus.

Ralf Lilienthal | Herr Ripl, Sie sind 1937 im Mostviertel zur Welt gekommen. Wie wurde aus dem niederösterreichischen Jungen ein Berliner Limnologe?
Wilhelm Ripl | Auf Umwegen. Nach der Volksschule war es mein Wunsch, Priester zu werden, weshalb ich zunächst auf ein Kloster­internat ging. In der Vorpubertät zogen mich dann aber die Natur­wissenschaften mehr und mehr in ihren Bann. Mein Studium der Technischen Chemie stand allerdings unter keinem guten Stern. Es war die Zeit nach dem Ungarnaufstand. Viele sind damals nach Österreich geflohen. Auf jeden Studienplatz kamen zwei Studenten. Die Folge: Enorme Wartezeiten in den Labors und allgemein chaotische Zustände. Als ich 1963 als Erntehelfer in Schweden meine spätere Frau kennenlernte, entschloss ich mich, dort zu bleiben. An der Universität in Lund bekam ich die Chance, ein Labor zu leiten und gleichzeitig ein aufbauendes Limnologie­studium durchzuführen.

RL | Im Land der Seen nicht gerade ein abgelegenes Forschungs­gebiet!
WR | Oh nein, damals waren viele Seen stark beeinträchtigt und ihre Restauration war eine drängende Herausforderung. Wir bildeten ein interdisziplinäres Team aus Biologen, Geologen, Chemikern und (Paläo)-Limnologen. Es gelang mir, ein Verfahren zu entwickeln, mit dessen Hilfe ein degradierter See innerhalb von drei Monaten saniert werden konnte. Sowohl meine Dissertation, als auch meine Habilitation haben dann dieser Thematik gegolten.

RL | Gab es neben dieser eher umwelttechnischen Arbeit auch so etwas wie eine Begegnung mit dem «Element Wasser»?
WR | In dieser Hinsicht haben mich meine Jahre in Schweden nachhaltig geprägt. Dort hatte ich die Zeit, mich irgendwo ans Wasser hinzusetzen und es einfach auf mich wirken zu lassen. Dabei wurde mir nach und nach die Bedeutung der befeuchteten Oberflächen bewusst. Das gilt vor allem für die Begegnung von Wasser und Land – an der Uferkante, im Flachwasser –, aber auch sonst. Denn alle wesentlichen Prozesse finden an Oberf­lächen bzw. Grenzflächen statt. Am Seeufer wird das augen­fällig. Das Seeufer ist dynamisch, schöpferisch, dort findet die Kommunikation des Sees mit dem Grundwasser statt, dort wird das Wasser erneuert, dort haben wir das Licht, die Reibung des Wassers am Stein, am Boden. Dort breitet sich die Vegetation aus, die Mikrobenwelt, die Tierbrut.

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Fotos: © Fotos: Wolfgang Schmidt

RL | Gilt das – in abgewandelter Form – auch für die Fließgewässer?
WR | Die dynamische Struktur des Flusses ist der Mäander, mit seinem rhythmischen Wechsel von Prallhang und Gleithang. Ganz wesentlich für ein gesundes Fließgewässer ist auch die Möglichkeit, sich auszubreiten, über die Ufer zu treten. Wenn wir hingehen und Galeriebäume pflanzen, den Fluss begradigen und kanalisieren, nehmen wir ihm die Chance, sich zu regenerieren. Ein natürlicher Fluss tieft sich kaum ein. Er ist meist flach und breit. Es sind die Phasengrenzflächen zum überschwemmten Festland, die seine Vitali­tät ausmachen und nicht die ausgetieften Kolke (Ver­tiefungen).

RL | Heute kennt man Sie als einen Wissenschaftler mit sehr eigenen ökologischen Ideen – was hat Sie ursprünglich dazu bewogen, über die Grenzen Ihrer Fachdisziplin hinauszuschauen?
WR | In der nacheiszeitlich geprägten schwedischen Landschaft wurde mir die Bedeutung der geschlossenen, stabilen Kreisläufe klar. Die entscheidende Frage ist: Wie entstehen, nach einer zumeist monokulturellen Pionierbesiedelung, ökologische Strukturen, die sehr langfristig und nachhaltig existieren können? Da muss man natürlich die Organismengesellschaften und ihre Diversifizierung in den Blick nehmen. Aber auch die Wechselwirkung von Energie- und Wasserhaushalt. Die Stabilität entsteht an Land. Dort entscheidet sich, ob das Wasser im Wesentlichen versickert oder verdunstet, ob es Nährstoffe irreversibel ins Meer ausschwemmt oder sie immer wieder am Ort gehalten und zugänglich gemacht werden. Das hat Folgen bis hin zur Ausformung der Fluss­mündung. Eine schlauchförmige Trichtermündung, eventuell noch mit vorgeschalteten Schwimmrasen, entlässt beinahe destilliertes Wasser ins Meer. In einem breiten Flussdelta dagegen, wird kubikmeterweise fruchtbarer Boden in die Ozeantiefen erodiert.

RL | Dahinter steckt eine ökologische Bilanzierung, die sich sowohl für natürliche, als auch für «menschengemachte Landschaften» aufstellen lässt.
WR | Richtig. In der Natur setzt die Differenzierung und Stabili­sierung eines Systems zwangsläufig ein; das geht dann so lange, bis es irgendwann wieder zu einer katastrophalen Veränderung kommt – gleichgültig, ob z.B. eine Eiszeit die Landschaft verheert, oder der Mensch! Als nach der letzten Eiszeit die Vegetations­systeme bereits wieder strukturell optimiert waren, betrugen die gelösten Austräge von Mineral- und Nährstoffen in großen Teilen Europas zwischen 15 und 30 Kilogramm je Hektar und Jahr. Heute dagegen schicken Land- und Wasserwirtschaft im Schnitt bis zu 1,5 Tonnen ins Meer!

RL | Gehen demnach von diesen beiden Wirtschaftsakteuren die größten ökologischen Belastungen aus?
WR | Ja, aber es kommt anderes hinzu. Offensichtliches, wie der Güter­­transport. Aber auch Dinge, denen gewöhnlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird, die aber gerade im Blick auf den Wasserkreislauf bedeutsam sind, wie etwa das Problem der «Wärme­insel Stadt». Um das zu verstehen, muss man zunächst das Gegenbild bemühen. Eine gleichmäßige Waldfläche ist in Bezug auf die Temperatur sehr homogen. Wären sämtliche Kontinental­flächen von Urwald bedeckt, hätten wir ein leicht voraussehbares, kaum schwankendes Klima. Je mehr der Wald vom Menschen ausgeflickt wurde, je mehr Monokulturen und Strahlungsinseln wir gebaut haben, desto instabiler und destruktiver wurde das Ganze. Wärme­unterschiede bedeuten unterschiedliche Luftfeuchtigkeit, unterschiedlicher Druck, starke Winde, mechanische Energie, Erosion und letztlich irreversible stoffliche Verluste vom Land zum Meer.

RL | Sie haben wiederholt Kritik an den gängigen Klimamodellen geäußert – warum?
WR | Wenn Sie ein Klimamodell erstellen wollen, müssen Sie die Dynamik der Atmosphäre an der Grenzfläche zu Vegetation und Boden verstehen. Das wichtigste Treibhausgas ist dabei aber nicht das Kohlendioxid, sondern der Wasserdampf. Verdampfen und Kondensieren, Abkühlen und Erwärmen haben enorme Druck­unterschiede zur Folge. Indem ständig nur über die Temperatur und das CO2 geredet wird, lenkt uns die Klimafolgenforschung auf das falsche Gleis. Wasser ist im Hinblick auf die Verteilung der Energie in der Fläche und in der Zeit das entscheidende Medium. Daher müssen wir vor allem anderen lernen, mit dem Wasser zu wirtschaften!

RL | Was bedeutet das für unsere Zivilisationspraxis? Was sollten wir konkret tun?
WR | Wenn der Mensch – als der intelligenteste Organismus – an die Natur und an kommende Generationen denkt, muss er künftig auf lokale Kreislaufwirtschaft setzen. Konsequentes Recycling. Reparieren statt Neu-Produzieren. Vor allem aber: Nicht globalisieren, sondern die nachhaltige Produktivität der heimischen Landschaften fördern. Ganz wichtig ist dabei der «Kleine Wasserkreislauf», also das Wasser, das am Ort verdunstet und sich am nächsten Morgen als kühlender Tau niederschlägt – selbst wenn es täglich um wenig mehr als einen Millimeter geht. Die Vegetation ist in der Lage, das zu akkumulieren. Um Wasser und Nutzstoffe im kleinen Kreislauf in der Landschaft zu halten, ist Gärtnerintelligenz gefragt.

RL | Was kann ein «Gärtner» tun, um das zu erreichen?
WR | Er könnte beispielsweise die Monokulturen unterbrechen und Bäume pflanzen. Warum? Weil Bäume gegenüber der Krautschicht pro Grundfläche das sieben- bis zehnfache an verdunstender Blattoberfläche aufweisen, wie Destillationskolonnen wirken und für gedämpfte Temperaturen und Drücke sorgen.

RL | Lässt sich das auch außerhalb der gemäßigten Breiten realisieren? Und halten Sie ein gesamt- und weltgesellschafliches Umdenken und Umlenken für möglich?
WR | Es gibt bereits sehr erfolgreiche Ansätze, etwa das «Natural Sequence Farming»-Projekt des Australiers Peter Andrews. Ich konnte mich wiederholt von dessen Wirksamkeit überzeugen. In einigen sehr trockenen, nur gelegentlich überfluteten Wadi-Tälern hat man dort mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems flacher, kaskadenförmig angelegter Teiche dafür gesorgt, dass sich Wasser in der Landschaft ausbreitet und hält. Andrews hat dann erst einmal alle Pflanzen zugelassen, die sich von selbst als sogenannte «Unkräuter» angesiedelt haben. Die sich dann bildende Gemeinschaft von Tief- und
Flach­wurzlern war sehr geeignet, den Wasserhaushalt der Landschaft zu stabilisieren. Auf ähnliche Weise lässt sich letzlich sogar eine Wüste nachhaltig begrünen. Und Änderungen im angedeuteten Sinne setzen Änderungen auf allen Ebenen voraus. Nehmen wir die Finanz- und Währungs­krise. Die Währung müsste von der Produktivität nachhaltiger Landschaften gedeckt sein. Nur gedeckte Währungen sind berechenbar und vor Spekulation sicher. Oder nehmen Sie unser auf dem Römischen Recht basierendes Rechtssystem, dessen universale Geltungsansprüche auf die Natur und Landwirtschaft nicht angewendet werden können, ohne dass in der Folge unsere Lebensgrundlagen zerstört werden. Nicht die EU sollte sagen, was wann auf dem Acker passiert – das muss im lokalen Kontext, von den einzelnen Landwirten in Rückkopplung zum Umfeld entschieden werden. Im Schwedischen gibt es dafür ein wunderbares Wort: lagom, das heißt: genau richtig, für diesen Ort, für diese Zeit!