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Bernard C. J. Lievegoed

Die Mondknoten: Begegnung mit der eigenen Berufung

Nr 152 | August 2012

Nach 18 Jahren, 7 Monaten und 9 Tagen wiederholt sich die Geburtskonstellation hinsichtlich des Verhältnisses von Sonne, Mond und Erde – der sogenannte «erste Mond­knoten». In diesem Augenblick steht das Tor der Geburt sozusagen wieder für kurze Zeit offen, und das Ich kann seine Impulse, die es im Hinblick auf die diesmalige Inkarnation in sich trägt, erneuern.
Diese Konstellation wiederholt sich also zum ersten Mal um das neunzehnte Lebensjahr. Die Jahre zwischen siebzehn und zwanzig sind daher von entscheidender Bedeutung für die ­Zukunftsziele des jungen Menschen. Er steht jetzt vor den wichtigen Fragen der Studien- und Berufswahl oder in der Konfrontation mit den Folgen zu früh getroffener Entscheidungen. Der junge Mensch fragt sich dann: Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich?
Auch die Zeit des zweiten Mondknotens ist von großer ­Be­deutung; er tritt ungefähr um das 37. Jahr herum ein, kurz nach dem Erreichen der Lebensmitte. Es ist dies ein Moment, der von vielen als eine Art «Nullpunkt» erlebt wird. Zwei große Menschheitsdramen, die Göttliche Komödie Dantes und Goethes Faust beginnen mit dieser Verzweiflungssituation um das 35. Jahr herum. Hier wird deutlich, dass die eigentliche ­Erfüllung der Lebensbestimmung dieser Inkarnation in der zweiten Lebenshälfte nur stattfinden kann, wenn es jetzt gelingt, den Lebensfaden recht zu ergreifen.
Auch der dritte und vierte Mondknoten um das 56. bzw. 74. Jahr herum nehmen in vielen Biografien eine besondere Stellung ein.
Wer versucht, sich das Bild seines höheren Ich vor Augen zu stellen, das den Lebenslauf von geistigen Höhen aus begleitet, der unternimmt einen ersten Schritt auf dem Wege, der zur ­Entwicklung der höheren Erkenntnisstufen der Imagination führt. Ein weiterer Schritt besteht darin, dass man versucht, sich ein Bild davon zu machen, in welcher Art das höhere Ich in die Seelen­kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens eingreift. Im dreigliedrigen Menschen entfaltet sich das Denken durch das Nerven-Sinnes-System, das hauptsächlich im Kopf lokalisiert ist; das Fühlen hängt mit den rhythmischen Funktionen des Herzens und der Atmung ­zusammen und der Wille mit Gliedmaßen und Stoff­wechsel. Beim höheren Ich aber ist es gerade umgekehrt:
Es bringt Willenskräfte in das Denken und Bewusstsein in den Willen.
Die Begegnung mit dem eigenen höheren Ich, dem idealischen oder «zweiten» Menschen in uns, wird zuerst im Gefühlsleben Wirklichkeit. Dann folgen die anderen Seelenkräfte. In das Denken ziehen neue Willenskräfte ein, die es kreativ machen und neue Standpunkte oder Interessengebiete eröffnen. Das Bewusster­werden des bisher schlafenden Willens äußert sich auf moralischem Gebiet; die alte, bisher selbst­verständliche Moral wird zum Problem. Neue Werte, neue Normen, neue moralische Ziele tauchen aus unbewussten Tiefen auf und konfrontieren den Menschen mit einer existenziellen Lebenskrise.

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