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Richard Steel

200 Jahre Kaspar Hauser

Nr 153 | September 2012

Am Michaelitag, dem 29. September 1812, genau vor 200 Jahren, kam der Erbprinz des badischen Throns zur Welt. Obwohl dem Kind gute Gesundheit attestiert wird, stirbt es angeblich plötzlich, ohne dass die Mutter, die Adoptivtochter Napoleons, oder die Säugamme es nochmal sehen dürfen. Bald nach dem Auftauchen des etwa
12 Jahre lang grausam eingekerkerten Findlings Kaspar Hauser in Nürnberg im Jahr 1828 kursierten die Gerüchte, dass es sich um den Prinzen handelt. Doch gleich erhob sich auch die Gegenstimme, die teils bedrohlichen Charakter annahm, und eine Flut von Literatur schwappte ins Land, die bis heute nicht abreißt.
Warum ist Kaspar Hauser immer noch im Gespräch? Warum gehen immer noch diffamierende Darstellungen durch die Presse? Prompt zu Beginn dieses Gedenkjahres gab es seltsame Artikel in diversen Zeitungen. Ein Eigentor vielleicht? Denn gerade die Be­harr­lichkeit dieser scheinbar unmotivierten Berichte legt uns die Vermutung nahe, dass etwas Wesentliches dahinter stecken muss.
Dynastische Verbrechen gibt es viele in der Geschichte, aber nicht nur dieser Aspekt fasziniert bei Kaspar Hauser, nicht nur die Frage, welche Bedeutung ihm an der Seite von Bismarck, Lassalle und dem bayrischen «Schwanenkönig» Ludwig in der Entstehung des deutschen Staates und eines neuen Europas zugekommen wäre. Durch die Begegnung mit den Menschen, auf die Kaspar «zufällig» traf, begann er, sich zu erinnern – und seine Aufgabe zu spüren. 1833 wurde er, 21-jährig, er­mordet. Ein verhindertes Schicksal? Zur gleichen Zeit bestieg Darwin gerade sein Boot, machte sich auf die Reise und entwickelte dabei Gedanken, die die Welt nachhaltig beeinflussen sollten: Der Kampf ums Dasein und das Überleben der Stärksten.
Unabhängig von seinem eventuellen Stand machte Kaspar durch die Ausstrahlung seines Wesens tiefen Eindruck auf viele Zeitgenossen. So hat unter anderen Freiherr von Tucher versucht, seine Ein­drücke zu beschreiben: «Mit seiner natürlichen, unmittelbaren Reinheit und Selbstbewusstlosigkeit gab er im vollkommensten Grade das Bild des ersten Menschen im Paradiese vor dem Sündenfall.» Diese Art Auswirkung setzt sich – über Künstler wie Wassermann, Rilke, Trakl, Handke, Reinhard Mey und Suzanne Vega – bis heute ungebrochen fort.
Kaspar Hauser wirft viele Fragen auf: nach dem Menschen überhaupt, nach Wesen, Herkunft und Moral. Was ist Schicksal? Gibt es eine Aufgabe, die man mit sich bringt, die nicht nur von äußeren Umständen abhängt? Kaspar war schwach, kindisch, ohne bio­graphischen Hintergrund und wirkt doch bis heute!
100 Jahre später, als ein verheerendes Menschenbild Europa ver­dunkelte, begann der Arzt Karl König ein besonderes Interesse für das Schicksal von Menschen mit Behinderung zu entwickeln.
Was geht von diesen Menschen aus, das viele Zeitgenossen tief beeindruckt, dem eigenen Schicksal eine Wende verleiht?
Karl König selbst geschah genau dies. 1928 erlebte er an solchen Kindern: «Ja, das ist meine zukünftige Aufgabe!» Und immer mehr wurde ihm der Zusammenhang mit dem Wesen Kaspar Hausers deutlich, den er später den Schutzpatron der Menschen mit Behinderung nannte.
Könnte es sein, dass heute dieses «besondere Kind Europas» uns dazu aufruft, im Zeitalter der sogenannten «Inklusion» das Wesen und die Aufgabe solcher Menschen neu zu erleben? Die Frage nach dem Menschenschicksal neu zu stellen?
Vielleicht geht es nicht darum, sein Rätsel zu lösen, sondern zu bemerken, dass jeder Mensch ein Rätsel ist, das indivi­duell gelöst werden will. Aber Individualismus ohne höhere Werte wäre eine weitere Art von Einkerkerung – nicht eines Kindes, sondern des Menschenkindes überhaupt. Quo vadis, Kinder Europas?

Zur Abbildung: Kaspar Hauser, in der ersten Zeit im Nürnberger Gefängnis, Juni 1828. Bleistiftzeichnung von Konrad Hitz (1798 – 1866), einer der wenigen Künstler, die ihn tatsächlich gesehen haben.