Christian Kaiser

Bienvenidos a Chile

Nr 153 | September 2012

Die Sonne Santiagos wirft harte Schatten, einzelne weiß gestrichene Häuser reflektieren das grelle Licht. Eine Stunde nach der Landung in Chile treffe ich Nikos Matsiordas. «Hola, Amigo!», ruft er aus der Tür des LOM Verlagshauses, an dem wir uns treffen. Vor knapp vier Jahren hat sich Nikos, der schwäbische Grieche, mit seiner Liebsten Kinga auf den Weg nach Santiago de Chile gemacht – und ist bis heute geblieben. In den nächsten Tagen wird er mir sein Chile zeigen.

Stadt der Sehnsucht
Sonnenverbrannte Landschaften fliegen vorüber, doch schon zwei, drei Autofahrminuten später umgibt uns saftiges Grün! Das Casablanca Tal wird seit den 80er Jahren bewässert, weiße Weingüter thronen wie Burgen an den Hängen. Wie im Kaleidoskop wechselt die Farbwelt. Nur eine Autostunde später kreisen Möwen am blauen Himmel. Seenebel liegt über der Küste. Bewohner von Hafen­städten kennen diese besondere Stimmung. Wir Besucher jetzt auch! Die Kirche steht seit dem Erdbeben der Stärke 8 im Februar 2010 ohne Turm da. Risse werfen ihr Krakelee über zahlreiche Haus­wände. Die Mittagssonne brennt unbarmherzig auf die Waren der fliegenden Händler, die Schuhe und Spielzeug auf der staubigen Plaza ausgebreitet haben. Wir steigen in einen der liebevoll gepflegten elektrischen Trolley-Busse aus den fünfziger Jahren und schnurren fast lautlos ins Stadtzentrum. Hier beginnt eine Zeitreise.
Sehnsucht der Seefahrer liegt über Valparaíso, der Stadt der Hügel. Die Gassen schlängeln sich bergauf, bergab. Pablo Neruda, den es immer wieder hierherzog, schrieb: «Wenn wir alle Treppen Valparaísos begangen haben, sind wir um die Welt gereist.» Wer die Treppen meiden will, schwebt in einer Kabine des Ascensor zur Oberstadt hinauf. Unter mir die bunten, wie Spielzeughäuser wirkenden Bauten des Hügels Alegre. Der Blick von der Terrasse des Hotel Brighton hüpft über die Farbtupfer der Stadt auf den Pazifik und den Hafen. Das Thermometer zeigt 30 Grad im Schatten, die Sonne scheint aber intensiver als daheim in Hamburg, wo bei meiner Abreise minus 20 Grad Kälte herrschte. Ein Hut wäre jetzt gut. Irgendwie Schatten gewinnen noch besser.

Don Mario
Nikos will Don Mario, seinen Freund, den Buchhändler, besuchen. Der 73-jährige Herr vom Volk der Mapuche Indianer grüßt Nikos freundlich und setzt sich verschmitzt lächelnd zu uns. Sein Geschäft trägt den doppeldeutigen Namen «Crisis». Stolz zeigt er auf ein Plakat von Nelson Mandela, das ihm der Freiheitskämpfer handschriftlich signiert hat. Don Marios politische Überzeugung zwang ihn, Chile während der Pinochet-Diktatur zu verlassen. Er fand Asyl in der Schweiz und später in Schweden, denn er war Mitglied von MIR, der Movimiento de Izquierda Revolucionaria, der Bewegung der revolutionären Linken. Wäre er geblieben, würde er heute vielleicht nicht mehr leben. Viele Parteien wurden verboten. Bücher öffentlich verbrannt. Pinochets Herrschaft war grausam – ihre Wunden schmerzen noch immer.

Vitale Herren
Einen Steinwurf von Crisis entfernt liegt ein Hutgeschäft – meine Kopfrettung. Ich entscheide mich für einen Panamahut, wie Nikos ihn trägt, und genieße die Bilder der weiten Bucht von Valparaíso bis zum Einbruch der Dämmerung.
Chilenische Musik schallt aus der Bar Cinzano. Heute Abend haben sich Herren fortgeschrittenen Alters zu einer Combo zusammen­gefunden. Der Sänger ist 85, der Schlagzeuger nickt zwar ab und zu ein, doch bald verbreitet die Musik der alten Herren brodelnde, ja erotisch sehnsüchtige Stimmung. Nikos bewirtet seine Tischrunde nach griechischer Art und überversorgt seine Gäste mit Wein und mariniertem Fisch. Seit fast vier Jahren leben Kinga und Nikos nun in Chile. Haben Fuß gefasst und jüngst auf der Hacienda seines Chefs geheiratet. Die neuen Freunde veranstalteten dabei sogar ein besonderes Hochzeitsritual nach Mapuche Art. Ja, beide sind froh über die Wertschätzung, die sie in ihrer Wahlheimat erfahren. Nikos arbeitet als Vertriebsleiter im Verlag LOM Ediciones, zugleich erledigt er noch zahlreiche andere Aufgaben in diesem Familienbetrieb. Voll durchstrukturiert dagegen läuft das Marketing des deutschen Unternehmens, in dem Kinga arbeitet. Was ihr Arbeitsleben angeht, leben sie in sehr unterschiedlichen Welten. Kinga bewegt sich beruflich in einem stockkonservativen Umfeld, Nikos in einem links­gerichteten Verlag, doch zu Spannungen führt das nicht – im Gegenteil.
«Nach meiner Ausbildung zum Verlagskaufmann – übrigens in dem Haus, das a tempo macht», Nikos lächelt und nickt, als wolle er grüßen, «bekam ich null Resonanz auf meine Bewerbungen in Deutschland. Da lockten die Angebote von Kinga, ins Ausland zu gehen, noch viel mehr – und waren außerdem auch ’ne Chance für mich.» Während der ersten Woche in seiner Wahlheimat Chile tat er fast nichts. In der zweiten Woche begann er einen Sprachkurs und schickte ein paar Bewerbungen ab. In der dritten Woche wurde er nach zwölf Initiativbewerbungen zu drei Vorstellungsgesprächen eingeladen. «Mit meinen dürftigen Spanischkenntnissen überstand ich das erste persönliche Gespräch bei LOM, einem Buchverlag, über den ich nichts wusste. Ich hatte nicht mal Gelegenheit, zu fragen, um was für eine Stelle es sich genau handelt. Nachdem ich meine Gehaltsvorstellungen genannt hatte, wurde ich regelrecht aus dem Büro geworfen. Nur einen Tag später wurde ich zu einem zweiten Gespräch eingeladen. Das zweite Gespräch dauerte knapp eine Stunde. Die Inhaber erwähnten nebenbei meine mögliche Funktion. Ich verstand kaum etwas, sagte aber nach fünf Minuten trotzdem einfach zu.» Der Chef, Don Juan, interessierte sich offenbar mehr für Griechenland und für Rezepte griechischer Speisen als für ein Zeugnis. Er reichte Nikos die Hand, und so wurde dieser mit 29 Jahren «Don Nikos», der Commercial Director. Worum es genau ging, was seine Aufgaben sein sollten, wurde ihm erst Wochen später klar. Dass er von Anfang an eine leitende Funktion bekleidet hatte, auch.

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Fotos: © Christian Kaiser (www.kaiser-photography.de)

Gringos e´ Monedas
Am nächsten Morgen herrscht gelassene Aufregung bei den ein­heimischen Schaulustigen am Kai. Pelikane und «Gringos» – das typische Kreuzfahrtpublikum mit «Monedas» – erobern in Gruppen die Stadt, die vor zehn Jahren in den Rang des UNESCO-Welt­kulturerbes aufrücken konnte. An vielen Stellen wird gewerkelt, nach Jahren des Verfalls geht es langsam voran.
Wir fahren auf der Küstenstraße gen Norden. Viña del Mar, strandwärts von Betonburgen überkrustet, löst Fluchtreflexe aus. Wie eine Wand türmt sich der Sand zu Dünen auf. Das Wasser des Pazifiks, von einer antarktischen Strömung nordwärts verfrachtet, beschert auch in den warmen Monaten keine Badetemperaturen. Wer hierherkommt, will die Düne sehen, nicht im Meer schwimmen. In der Zeitung stand, dass die Düne neuen Apartments weichen soll. «Man wird sie wegschieben», meint Nikos, «einfach so. Ohne Gnade.»
Quintero, zwei Küstenorte weiter nördlich, wird von einer Kupferhütte samt Kaianlagen dominiert. Erzfrachter liegen auf Reede. Die Menschen liegen dennoch dicht an dicht am Strand und genießen die Brise und das Meer. Gegrilltes, Fisch, Fleisch, Eis und Getränke werden lautstark feilgeboten.
Horcón, ein paar Dörfer weiter, ist noch fast unberührt vom Nahtourismus der Hauptstadtbewohner; Sonnengegerbte Fischer flicken ihre Netze, Händler bieten gekühlte Getränke an. Auf einem Felsen
steht der heilige Petrus in seinem Betonboot. Über einem Feuer erhitzt ein Junge Empenadas, Teigtaschen mit Hack und Zwiebeln gefüllt. Nach ein paar schäbigen Wellblechsiedlungen mit ver­rotteten Bootswracks taucht in einer bewaldeten Bucht Zapallar auf. Idyllisch und etwas versteckt liegt der Ort in einer be­waldeten Bucht. Die großzügige Architektur erinnert mich an die Villen der Elbchaussee, wo nicht immer neue Gebäude mit dem historischen Stil harmonieren. «Wichtig ist hier, was man hat – und das wird gerne gezeigt», so Nikos.
Wir machen noch einen Abstecher ins Cajón del Maipo, das lang gestreckte Hochtal in den Anden vor den Toren Santiagos. Hier entspringen die Quellen des Maipo. «Rettet das Wasser von Santiago», lese ich auf Plakaten am Straßenrand. Der Fluss soll durch Rohre künftig in Turbinen geleitet werden und dann in den Monokulturen der Landwirtschaft versickern. Die Agrarindustrie, bedeutender Wirtschaftszweig Chiles, hat Durst. Obst und Wein wird angebaut und im Kühlcontainer in die ganze Welt verschifft.

Nora und ein Faux pas
Die Staatsbibliothek von Santiago ist in einem kolonialen Prunkbau untergebracht. Hier treffen wir Nora, die Leiterin der LOM Verlagsbuchhandlung. Sie auf Pablo Neruda anzusprechen war wohl ein Faux pas. «Das war doch ein Macho!» Nora zieht rasch einen Gedichtband hervor und sagt: «Alle kennen Pablo, aber wer kennt denn schon Gabriela Mistral, die 1945 mit dem Nobelpreis geehrt wurde?» Nora hat vielleicht recht. Ich werde sie nun kennenlernen!
Nikos drängt zum Aufbruch, er will mir etwas zeigen, das man als Tourist normalerweise nicht zu sehen bekommt. Wir gehen ins für Santiago typische «Café mit Beinen»: Hier wird starker Expresso von jungen Damen mit viel Bein serviert. Doch das war es nicht, was er mir zeigen wollte. Sein Ziel liegt in einer Gasse unweit des Geschäftszentrums. Hier steht ein schönes altes, zweistöckiges Haus. Halbrunde hohe Fenster. Eine Eingangstür aus Holz. Ein leer stehender Saal mit Kamin. Ich sehe mir die kahlen, halbdunklen Räume im ersten Stock an, blicke aus dem Fenster in den Hof. Beklemmung überkommt mich, als könnten die Wände sprechen. In diesem Haus wurde während der Diktatur verhört und gefoltert. Vor dem Haus sind Gedenksteine – ähnlich unseren Stolpersteinen für die Opfer der Nazi-Diktatur – ins Straßen­pflaster eingelassen. Ein Menschen­rechtsverein nutzt nun die Räumlich­keiten. Ehrenamtliche setzen die Suche nach Ver­schollenen bis heute fort.

Besuch in Nikos Büro
Die Damen stehen auf, lassen sich ein Küsschen geben, wie es hier Brauch ist. Drei Aguileras und Haupteigentümer Paulo Slachevsky leiten gemeinsam den Verlag. Auch Nikos Meinung zählt, er hat ja schließlich in Deutschland gelernt. Dass ihn die Angestellten etwas ehrfürchtig «Don Nikos» nennen, lässt er schmunzelnd über sich ergehen. «Da alle Mitarbeiter bei uns unkündbar sind, gibt es auch manchmal Schwierigkeiten», gesteht Nikos, der aber mit griechen­eigenem Stolz von «seinem» Verlag erzählt. «LOM ist der größte Independentverlag Chiles. Er ist ein Juwel mit Gewicht. Wir verlegen Bücher von Tolstoi bis Kleist, vor allem aber Literatur über Menschen­rechte. Paulo und die Geschwister sehen ihren Verlag auch als politische Aufgabe – das ist ihr Programm. Der europäische Schein Chiles nämlich trügt», erklärt Nikos mit ernsterer Miene, «erst wenn man hier eine Zeit lang gelebt hat, lässt sich das erkennen. Meine Art frei zu denken und zu sprechen sorgt oft für Kopfschütteln unter den Chilenos. Das kann ein Grund dafür sein, dass sich nur wenige echte Freundschaften mit Einheimischen entwickelt haben.»
Das große Problem ist die Spaltung der chilenischen Gesellschaft. Klar, Santiago ist eine sehenswerte Stadt, der Alltag der Chilenen bleibt für die Touristen aber unsichtbar. Viele – meist kinderreiche – Familien leben auf weniger als 50 Quadratmetern in sogenannten «Poblaciones», die so trostlos sind wie das Blech, aus dem sie meist gebaut sind. Da vertraut man besser nur sich selbst.
Straßenhunde liegen umher, wohin man geht und steht – selbst im Zentrum der Metropole Santiago. Es sind Hunde, die nicht gestreichelt werden wollen. Nur Futter macht sie an. Jede Shopping Mall führt junge Hunde im Sortiment, als wären die Straßen nicht schon übervoll genug. Sind sie ausgewachsen, verlieren ihre Besitzer die Lust an ihnen. Dann heißt es: Raus!

Abschied und Zukunft
Ein letztes Abendessen im «Vacas Gordas», wo Nikos laut über die Zukunft nachdenkt: «Wir haben noch nicht entschieden, ob wir nach Deutschland zurückgehen – oder nicht. Wir haben Freunde und Familie daheim, die vermissen wir hier sehr...» – «Schreib das, Christian, sonst werden die noch sauer», fügt er lachend hinzu und ich weiß, dass seine Sehnsucht trotzdem echt ist. «Wir haben das Meer in der Nähe, die Anden beginnen vor der Tür und das Wetter ist ein wahrer Luxus. Die Chancen für die berufliche Entwicklung sind hier gerade besser als in Europa.» Sind sie das? Ich habe Zweifel.
Nikos und Kinga bringen mich zum Flughafen. Da gibt es gar keine Diskussion, aber ein Problem, denn die Straße vor uns ist blockiert. Schüler haben Barrikaden auf der Avenida errichtet, jetzt züngeln die Flammen. Vollbremsung! Kinga macht mit dem Auto ein filmreifes Wendemanöver, und dieser U-Turn hilft uns aus der Patsche, denn wir haben nicht mehr viel Zeit. Als mein Flieger hoch über
die Anden, Paraguay und Brasilien hinwegschwebt, dunkelt es. Der Monitor zeigt die Umrisse des südamerikanischen Kontinents. Ich denke an die zwei – und die Irrfahrt des Odysseus …