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Jelle van der Meulen

Die Not Europas

Nr 153 | September 2012

Über den Wohlstand, die Armut und die Menschenwürde

Die Schulkinder in Kassel wissen schon, dass es Elendsviertel in der Welt gibt. Und dass es sie auch in Lima gibt, nehmen sie heutzutage wie selbstverständlich zur Kenntnis. Auch wissen sie, dass es nett ist, für die Entwicklungsarbeit Geld zu spenden. Denn ohne Geld aus Europa werden in der Wüste von Lima kaum Kindergärten gebaut, kaum Parks angelegt und kaum Aktivitäten für die Kinder organisiert (damit sie nicht in den berüchtigten Jugendbanden landen). Das alles ist nicht neu und außerdem «ganz klar».
Neu für sie ist aber diese junge Frau, Veronica Rondón, die aussieht wie eine moderne Indianerin. Die Hand lässig in die Jeans gesteckt, erzählt sie ganz sachlich über die Förderprojekte in den Elendsvierteln von Lima. Arm sieht sie nicht aus, sie hat nicht die Spur von einer Bettlerin an sich. Ganz im Gegenteil, sie redet ruhig wie eine selbstbewusste Prinzessin aus den Anden. Sie will niemanden überzeugen, will kein Mitleid erregen oder sich als Opfer hinstellen. Sie redet über die Armenviertel und all das Elend, das es dort gibt, als ob es die normalste Sache der Welt sei. Und sie scheint auch zu sagen: «Arm sein bedeutet nicht, dass man keine würdige Biografie führen könnte.» Sie erzählt von Aynimundo, einer peruanischen Stiftung, die mit der Gemein­nützigen Treuhandstelle Bochum zusammenarbeitet. Jeden Euro, der Aynimundo in Deutschland über die GTS geschenkt wird, verdoppelt die GTS. Die Kinder verstehen das, weil die Menschen in den Elendsvierteln arm sind und Hilfe brauchen, unsere Hilfe. Mit uns ist nämlich alles in Ordnung. – Später, im Auto, schweigt die junge Frau zunächst. «Es ist schon so», sagt sie dann, «dass die Kinder hier Spaß haben. Ich sehe aber wenig echte Freude dabei. Mein Eindruck ist, dass die Kinder Angst vor der Freude haben. Ist das so?»
Ihre Frage löst ein langes Gespräch über das Leben in Europa aus. Wir stellen fest, dass es auch so etwas wie den «Schmerz Europas» gibt. «Aynimundo», sage ich schließlich, «müsste eigentlich auch in den seelischen Elendsvierteln Europas arbeiten.»
Exzessiver Wohlstand ist in Europa die unverrückbare Norm. Auf diesen Wohlstand kann man zählen. Wenn man in Europa nicht am Wohlstand teilhaben kann, schämt man sich. Diese Norm ist also in Wirklichkeit doch nicht so unverrückbar. Wenn man sie unter der Perspektive der gesamten Welt betrachtet, muss man sogar feststellen, dass sie eine große Ausnahme ist, eine Illusion. Eine grobe Rechnung zeigt: Schätzungsweise 700 Millionen Menschen (die Einwohner Europas und der USA) können davon ausgehen, dass hochgradiger Wohlstand die Norm ist, weil sie die Wirklichkeit, in welcher diese Norm gilt, kennen. Es darf angenommen werden, dass ungefähr 500 Millionen Menschen diese «unverrückbare» Norm auch tatsächlich mehr oder weniger erreichen. Aber der Rest der Welt, 5,5 Milliarden Menschen also, kennt die Norm nicht, für sie ist sie nichts weiter als ein paradiesischer Traum oder schlicht eine Illusion. Die Hälfte der Weltbevölkerung, also 3 Milliarden Menschen, lebt noch faktisch unter der Grenze der «weichen» Armut, das heißt: von zwei Dollar pro Tag.
Was in Europa eine «feststehende» Norm darstellt, ist in der übrigen Welt eine Illusion. Wir leben jedoch im Zeitraum der sogenannten Globalisierung; jeder Weltbürger wird langsam, aber sicher zum Kosmopoliten, auch wenn er in den Elendsvierteln von Lima wohnt. Weltbürger kann man jedoch nur dann werden, wenn man sich auch tatsächlich mit der Welt identifiziert, oder anders ausgedrückt: wenn man mit ihr zusammenwächst ...