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Walther Streffer

Michelangelos offenbare Geheimnisse

Nr 154 | Oktober 2012

Ein neuer Blick auf das Meisterwerk

Walther Streffer zeigt durch seine vergleichende Betrachtung des gemalten Kosmos des Sixtinischen Deckenfreskos von Michelangelo das Geheime, die übersehenen Zusammenhänge des für alle Augen doch Sichtbaren in diesem imposanten Meisterwerk. Er richtet unseren Blick auf die spannungsreiche plastische Atmosphäre, die als Offen-heit verstandene Mehrdeutigkeit der dargestellten Szenen und auf Gestal-tungselemente, die die Eigenaktivität des Betrachters ansprechen, herausfordern und in den künstlerischen Schaffensprozess miteinbeziehen.

«Es geht mir weniger um eine Korrektur der bisherigen Michel-angeloforschung, als mehr um eine Ergänzung, vor allem jedoch um eine Annäherung an den Künstler und Menschen Michelangelo.» Walther Streffer

Am 31. Oktober 1512 fand die Enthüllung des monumentalen Meisterwerks des
erst 37-jährigen Michelangelo statt.

Willenskraft
Zum 500. Jubiläum des Sixtinischen Deckenfreskos Michelangelos

Im Alter von fast dreißig Jahren wurde Michelangelo im Februar 1505 von Julius II. nach Rom berufen. Der Papst hegte den Plan, sich ein prachtvolles Grabmal errichten zu lassen. Insgesamt sollten mehr als 40 lebensgroße Skulpturen einen frei­stehenden riesigen Marmorquader von etwa 10 x 7 Metern in zwei Etagen umgeben. In einer Höhe von über 9 Metern sollte der Papst thronen. Für das Untergeschoss waren vor allem gefesselte Ge­fangene und die Personifikationen der Künste vorgesehen; auf der Attika, dem niedrigen Obergeschoss, sollten vier gewaltige Gestalten wie der Moses Platz finden. In der Skulptur dieses großen Menschheitsführers scheint die gewaltige Willenskraft seines Schöpfers selbst verkörpert zu sein. Welcher andere Bildhauer seiner Zeit hätte es gewagt, ein monumentales Unternehmen wie das Juliusgrabmal allein in Angriff zu nehmen? Michelangelo war ein Mann der Tat und von außerordentlicher Schöpferkraft beseelt. Er fuhr sobald als möglich (im Mai 1505) voller Enthusiasmus in die für ihren weißen, makellosen Marmor berühmten Steinbrüche von Carrara, etwa 110 km nordwestlich von Florenz. Ernst Gombrich hat in seiner lebendigen Darstellungskunst den Seelenzustand Michelangelos einzufangen versucht:
«Der Anblick all dieser Marmorfelsen überwältigte den jungen Bildhauer. Sie schienen nur auf seinen Meißel zu warten, um sich in Statuen zu verwandeln, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte. Michelangelo blieb mehr als sechs Monate in den Brüchen, wählte aus, verwarf und kaufte, während sich die Gestalten in seiner Phantasie drängten. Er wollte diese Figuren aus dem Marmor er­lösen, in dem sie schlummerten.»
Michelangelos ausgeprägter Wille zeigte sich schon sehr früh. In der Lateinschule hatte er große Freude am Zeichnen und wollte in die Werkstatt Domenico Ghirlandaios gehen. Der Jüngling musste sich gegen den Stolz des Vaters durchsetzen, der ihn als zukünftigen Beamten sah, denn Maler genossen damals als Handwerker wenig Ansehen. Bereits nach einem Jahr wechselte Michelangelo seinen Lehrplatz und lernte im Skulpturengarten von San Marco die Kunst der Bildhauerei. Er war Hausgast bei Lorenzo de Medici, dem Herrscher von Florenz, und hatte somit im Palast Gelegenheit, die gelehrten Freunde seines väterlichen Mentors und deren neu­platonische Gedanken kennenzulernen. Und er wurde vertraut mit den Ideen des geistig überragenden Pico della Mirandola, dessen Schrift Über die Würde des Menschen zu den berühmtesten Texten der Renaissance zählen sollte, weil Pico die Willensfreiheit zum zentralen Thema der Menschenwürde erklärt hatte.
Michelangelo war 1505 nicht zum ersten Mal in Carrara. Acht Jahre zuvor hatte er dort den großen Marmorblock ausgesucht, um die römische Pietà zu meißeln, bei deren Anblick die Italiener in ehrfürchtiges Staunen gerieten, dass ein junger Bildhauer dem harten Marmor eine derart lebendige Innigkeit zu verleihen vermochte. Kurze Zeit danach erfolgte ein neuer Auftrag aus Florenz. Aus einem verhauenen mächtigen Marmorblock, der seit mehr als 35 Jahren in der Dombauhütte lag, sollte Michelangelo eine überlebensgroße Skulptur schaffen. Er nahm diese Herausforderung begeistert an. Nach zweieinhalbjähriger Arbeit war die 5 Meter hohe und 5,5 Tonnen schwere Skulptur des David vollendet. Die Bürger der Republik Florenz waren stolz und nannten den David ehrfurchtsvoll il gigante. Michelangelo hatte mit 29 Jahren zwei der berühmtesten Skulpturen der italienischen Kunstgeschichte geschaffen und galt als der größte Bildhauer seiner Zeit. Und jetzt war er wieder in Carrara, um die tonnenschweren Marmorblöcke für das Juliusgrabmal auszusuchen. Ein derart gigantisches Unter­nehmen war so recht nach seinem Sinn. Sein Tatendrang war so unermesslich, dass er in der Nähe von Carrara sogar eine ganze Bergflanke in eine Skulptur verwandeln wollte!

Michelangelo war bis Ende 1505 in Carrara. Zu Beginn des neuen Jahres trafen die mehr als neunzig Wagenladungen auf dem Platz der alten Petersbasilika ein. Die Einwohner Roms begeisterten sich am Anblick dieses weißen Steingebirges, das Michelangelo in ein Grabmal verwandeln wollte. Aber Michelangelos Plan wurde aufs Heftigste gebremst. Der Künstler erfuhr eine herbe Enttäuschung, denn der Papst hatte inzwischen einen noch gewagteren Plan gefasst, nämlich die größte Kathedrale der Christenheit zu errichten. Julius II. war ganz mit dem Neubau der Peterskirche beschäftigt und schien sich nicht mehr um Michelangelo zu kümmern. Als der enttäuschte Künstler auch noch hörte, der
Papst wolle ihn nicht mehr bezahlen, verließ er am 17. April 1506 zornig und ohne Erlaubnis Rom. So bekam sogar der Papst in seiner unumschränkten Macht das starke Selbstbewusstsein eines Künstlers zu spüren. Julius II. sah sich einem titanischen Willensmenschen gegenüber, wie er es noch nicht erlebt hatte. Man versöhnte sich zwar wieder, aber Michelangelos Hoffnung, nun mit dem Grabmal beginnen zu können, erfüllte sich nicht. Er sollte nun nach dem Befehl des Papstes die Decke der Sixtinischen Kapelle ausmalen!
Eine schwere Krise war die Folge. Aber letztlich fügte sich Michelangelo. Und mit dem Entschluss, etwas zu malen, was die Welt noch nicht gesehen hatte, floss seine grenzenlose Leidenschaft für das Grabmalprojekt zunehmend in die Gestaltung des Deckenfreskos. Ausschlaggebend war, dass der Papst nicht mehr darauf beharrte, die Decke nur mit 12 Aposteln ausschmücken zu lassen, sondern dem Künstler mit dem berühmten Satz: «Mach, was du willst!», freie Hand ließ. Michelangelo widmete sich schließlich mit großem Enthusiasmus, seinem ganzen Können und einer fast übermenschlichen Energie diesem monumentalen Projekt und erschuf fast 350 Gestalten in leuchtenden Farben. Vergleicht man die Propheten, Sibyllen und Ignudi mit den geplanten Figuren des Juliusgrabmals, so wird deutlich, dass die gemalten Figuren des Deckengewölbes eine Transformation der Grabmal-Skulpturen darstellen. Das Grabmal ist der Schlüssel zum Deckenfresko. Die Gestaltungskraft des Bildhauers erschuf eine völlig neue plastische Atmosphäre und revolutionierte damit die Malerei. Der machtvolle Wille, die spirituelle Weisheit und die rhythmisch-formende Kraft des Künstlergenies vermochten es, die Bilder des Gewölbes in einer lebendigen Entwicklungsdynamik zu einem Gesamtkunstwerk zu ge­stalten. Mit seinen «gestaltenden Willenskräften rührte Michelangelo an die bildhafte Quelle des Mythos und der Esoterik, denn der hervorbringende, schöpferische Wille ist die tiefste Form unserer geistigen Existenz» (Heinz Georg Häussler).

von Walther Streffer