Martina Gedeck im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Eine Frau überlebt und lernt leben

Nr 154 | Oktober 2012

Die vielfach ausgezeichnete Schauspielerin Martina Gedeck ist bekannt aus zahlreichen Film- und Fernsehrollen (u. a. «Das Leben der Anderen», «Der Baader Meinhof Komplex»). Nun spielt sie die Hauptrolle im neuen Film des Regisseurs Julian Roman Pölsler nach dem Roman «Die Wand» von Marlen Haushofer, der seit 40 Jahren eine begeisterte Leserschaft findet. Doch man muss den Roman nicht kennen, um von diesem spannenden Film fasziniert zu sein, der nur scheinbar nichts mit unserem heutigen Leben zu tun hat – denn wer lebt schon allein in einem Tal in den Alpen, kämpft Tag für Tag um sein Überleben? In bemerkenswerten Naturaufnahmen werden wir mit der Geschichte einer äußeren und inneren Entwicklung konfrontiert: Aus einer gelangweilten Frau wird eine Persönlichkeit, die sich ihren Ängsten stellt, gerade auch, weil sie einer grundlegenden Wirklichkeit des Lebens, der Natur, ausgesetzt ist. Für Martina Gedeck ergeben sich daraus Fragen: Was ist wesentlich für den Menschen? Wie kann man mit Schicksalsschlägen umgehen? Wie blicke ich auf eine immer ungewisse Zukunft? Themen, Szenen, die in «Die Wand» auftauchen, uns berühren, uns nahe legen, die eigene Wand aus Gewohnheiten im Denken und Handeln wahrzunehmen – und vielleicht ja sogar zu durchbrechen …

Doris Kleinau-Metzler | Frau Gedeck, können Sie sich vorstellen, dass man nach dem Film Die Wand aus dem Kino auf die Straße tritt, um sich schaut und fragt: Wie lebe ich hier eigentlich? In dem Film erlebte man Natur pur, nie idealisiert, sondern mit der Mühsal der Nahrungssuche und Einsamkeit. Aber diese Natur ist uns fremd, wir leben in einer anderen Wirklichkeit.
Martina Gedeck | Ja, aber Die Wand stellt uns auch die Frage: Was bleibt eigentlich übrig, wenn bestimmte zivilisatorische Dinge wegfallen, die für uns westliche Menschen selbstverständlich sind – wie die berufliche Arbeit, der Supermarkt, die Freunde, vor allem aber das Streben nach Erfolg und Anerkennung? Was bleibt, was immer bleibt, ist die Würde des Lebewesens und das Eigentliche, das Wesentliche des Lebens: Beziehung, Liebe.
Die «Frau» (gemeint ist die Hauptfigur des Romans, des Films), die ge­lang­­weilt ist, ohne es vielleicht zu wissen (wie manche Menschen), bewegt sich am Anfang wie ein Fremdkörper durch die Natur; sie ist zugleich wie von sich selbst getrennt. Die Wand kann für vielerlei stehen: für eine Traumatisierung, eine Depression, einen Traum; alles ist denkbar. Entscheidend ist, dass in der Abgeschiedenheit eine Art Heilungsprozess beginnt: Obwohl die «Frau» sich in einer katas­­trophalen Situation befindet, entwickelt sie ungeahnte Ideen, hat überraschende Ressourcen, und ihr geht es immer besser – weil sie sich der Wirklichkeit stellt. Und die Wirklichkeit dort ist eine Wirklichkeit, die für uns alle gilt. Durch ihr Zurückgeworfensein auf die Grundfragen des Lebens wird das gemeinsame Element der Existenz von Menschen und Tieren deutlich: Wir leben, um zu leben. Aber wir vergessen es oft.

DKM | Erstaunlich und doch glaubhaft, wie diese Frau den Alltag in der rauen Natur bewältigt und welche Rolle die Tiere für sie allmählich spielen. Sie lächelt erstmals, als sie der Kuh einen Namen gibt.
MG | Ja, sie verliert ihre Berührungsängste, weil sie die Natur und vor allem die Tiere, ihre Beziehungspartner, nun als etwas Schönes sieht. Zudem ist sie gezwungen, neue, ungeahnte Fähigkeiten zu entwickeln – z. B. eine Kuh zu melken. Vorher hätte sie sich das nie zugetraut, sie war wie wir alle: Uns ist seit der Kindheit gesagt worden, was wir tun sollen, wie wir es tun sollen, sodass wir
meinen, nichts von selbst zu können und eigentlich immer irgendwelchen Anforderungen nicht zu genügen. Nun nimmt die «Frau» die Versorgung der Kuh zu einem bestimmten Zeitpunkt bewusst an, übernimmt damit Verantwortung und ist gebunden. Sie gibt der Kuh, die auch ein Sinnbild als Ernährerin, eine Mutter ist, einen Namen (was an ein urbiblisches Motiv erinnert). So lernt sie Schritt für Schritt (denn das braucht eine lange Zeit) eine Beziehung zu den Tieren aufzubauen, allein in den Bergen zu leben, auf ihre ganz eigene Weise. Auch in unserer Wirklichkeit ist es wichtig, das Eigene zu finden, das Ureigene in unserem Leben lebendig werden zu lassen, zu entwickeln – und nicht zu versuchen, so zu sein, wie jemand anderes oder wie andere meinen, dass man sein müsste.

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Fotos: © Fotos: Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

DKM | Unter welchen Bedingungen wurde der Film gedreht?
MG | Der Film verzichtet völlig auf Special Effects und arbeitet mit puren Mitteln, um diesen Zwischenraum, in dem die «Frau» ist, in dem Menschen sein können, darzustellen. Existenzielle Bedingungen werden uns wie in einem Spiegel vorgehalten. Dazu greift der Film zu unüblichen dramaturgischen Mitteln: Er gibt eher Rätsel auf, als dass er sie löst, und kann uns dadurch auch aus der Rolle des reinen Konsumenten holen, weil er uns geistig, seelisch so anspricht, dass wir gebannt sind. Und ich bin froh, dass eine Form gefunden wurde, die werkgetreu dem Roman entspricht, der lange als unverfilmbar galt, weil es keine Dialoge in dem Buch von Marlene Haushofer gibt. Die radikale Lösung, nämlich den von der «Frau» aufgeschriebenen Monolog während des Films als «Voice over» zu hören, hat mich auch während der Dreharbeiten begleitet, denn ich habe den Text gehört, während ich spielte und konnte meine Gedanken, mein Spiel darauf beziehen. Die gesamte Arbeit an dem Film, die sehr lange dauerte wegen der verschiedenen Jahres­zeiten, in denen gedreht wurde, war für mich etwas Besonderes.

DKM | Im Film wird die Einmaligkeit eines Augenblicks deutlich: Die «Frau» sitzt auf der Sommer-Alm, der Hund neben ihr. Sie schaut, atmet tief, sie weiß: So schön, so stimmig wird es nie mehr sein; als ob sie eine Lebensweisheit spürt. Ist das Allein-Sein, Für-sich-Sein in Ihrem Leben wichtig, um das Gespür für so etwas zu behalten?
MG | Für mich ist das ganz wichtig. Gerade wenn man in einem kreativen Beruf arbeitet, in dem man auf stete Kommunikation angewiesen ist, in dem ich selbst intensiv kommuniziere und immer mit Menschen konfrontiert bin, brauche ich Zeiten des Rückzugs, wie eine Pflanze das Wasser braucht. Ich kann nur so Dinge für mich verarbeiten, mich nach der Person, in deren Welt ich war, quasi wieder an mich andocken. Nur wenn ich Grund unter mir finde, kann ich wieder kreativ arbeiten.

DKM | Was fasziniert Sie am Beruf der Schauspielerin?
MG | In Filmen, in Theaterstücken werden die Dinge der Menschen behandelt. Wir können uns in Ruhe hinsetzen, uns das anschauen, nachdenken, danach darüber sprechen. Eigentlich sind es Momente des Innehaltens, der Auseinandersetzung in Form von Geschichten. Und das Bedürfnis des Menschen, sich mitzuteilen, zu erzählen, gehört zu ihm – auch die «Frau» sagt: «… dass ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will …» Das unterscheidet den Menschen vom Tier: Reflexion, Nachdenken, Vorausdenken. Was passiert, wenn das nicht geschieht, wird in der dramatischsten Filmszene deutlich – eine absolute Verwilderung, Töten ohne Sinn und Zweck. Die Kultur des Erzählens hilft uns, uns zu entwickeln, immer wieder. Ich selbst bin eine schlechte Konsumentin, ich möchte etwas tun, selbst gestalten, kreativ sein, wenn ich länger nicht spiele. Das ist wie ein Boden in mir, der bestellt werden will.
Wir haben ja vieles in uns, von dem wir nicht wissen, wo es herkommt und weshalb es eine Anziehung auf uns ausübt. Die Schauspielerei ist für mich die Beschäftigung, das Erforschen und dann Verkörpern von menschlichem Geschick, sich wirklich damit zu verbinden, eine Existenz durch den eigenen Körper zu erleben – und weiterzugeben an andere; das macht das Ganze erst sinnvoll. Ich nehme etwas auf, verwandle es und gebe es wieder nach außen. Das Verwandeln ist das Eigentliche; in der Verwandlung bin ich zu Hause.

DKM | In diesem Film ist Kreativität auch zentral, ganz praktisch und handfest, damit die «Frau» und die Tiere etwas zu essen haben. Nach dem Schicksalsschlag hilft ihr zunächst ihre alltägliche Arbeit, aber sie stellt sich dann den Gedanken.
MG | Vor allen Dingen rettet sie ihre Erfahrung, ihr Wissen, dass sie sich selbst helfen kann. Sie kann ihr Leben in die Hand nehmen und die Natur so kultivieren, dass es weitergeht, das heißt, ihre eigenen Mittel und ihre Fähigkeiten reichen trotz der Extrem­situation aus. Sie ist nicht mehr dieselbe wie am Anfang, verdrängt ihre Fragen, ihre Ängste, die immer wiederkommen, nicht, und sieht offen in die schwere Zukunft – sie weiß, die Antworten werden irgendwann erscheinen.
Manchmal kommt es auch mir so vor, als ob die Dinge sozusagen erst zur Reife gelangen müssen – aber in ihrer eigenen Dynamik und nicht, weil wir es so wollen. Wir können den Boden bereiten, Bedingungen schaffen, darüber nachdenken, durch Empfindungen hindurchgehen, die Dinge «aushalten» … Es ist ein Irrtum zu glauben, das Leben ist funktional, das heißt, wenn ich auf den Knopf drücke, dann kommt die Antwort – und wenn ich mir Gedanken mache, habe ich zur Belohnung die passende Antwort. So ist es nicht, es kommt manches unvermutet, manchmal Jahre später. Das ist für mich Lebenswissen geworden, dass wir uns ein bisschen vom Leben selber leiten und führen lassen. Und dass es darum in der Rolle, in dem Film Die Wand geht, habe ich vorher so nicht gewusst. Es war sehr schön, dass wir alle, die wir den Film gemacht haben, ein Stück weit in diesem Mikrokosmos das erlebt haben, dass wir gut vom Leben begleitet wurden.

DKM | Was haben Sie von dem Film, von der Rolle für die Zukunft gelernt?
MG | Ich habe gelernt, weniger ergebnisorientiert zu arbeiten und mit größerer innerer Entspanntheit. Mein Spiel und meine Art der Herangehensweise hat sich nochmals vertieft. Ich verlasse mich viel mehr auf das, was ich mitbekommen habe. Dazu gehört das Bewusstsein, dass es in Ordnung ist, wie ich es kann, und nicht weiter optimiert werden muss. Dieser Optimierungszwang, den man sicher auch in anderen Berufen kennt, zerstört viel, «verschlimmbessert», weil der unmittelbare Zugang, der viel tiefer wirkt, genommen wird.
Dazu gehört auch, dass man sich Zeit lässt, um etwas zu entwickeln. Oft entstehen Dinge wie von selbst. Wir haben bei den Dreharbeiten vieles wiederholen müssen und immer sind neue und interessante Dinge dabei entstanden, die uns vorher nicht unbedingt klar waren. Es war ein sehr lebendiger Arbeitsprozess. Dieser Film verweist wie kein anderer auf das Leben selbst. Einer der letzten Sätze lautet: «… aber etwas Neues kommt heran und ich kann mich ihm nicht entziehen». Eine hoffnungsvolle Aussicht. Das, was aussah wie eine Katastrophe, ist eigentlich ein Aufbruch.