Marie-Thérèse Schins

Unbeschreibliches Indien

Nr 154 | Oktober 2012

Reisen verleiht nicht nur der Seele Flügel. Reisen nach Indien tragen einen zudem auf bunten Schwingen in eine Welt, die für Europäer mit den Sinnen unfassbar scheint.
Die Journalistin, Malerin und Schriftstellerin Marie-Thérèse Schins (www.marie-therese-schins.de) lässt sich seit über zwanzig Jahren von Indien verführen und dorthin entführen, bringt Hilfe für Kinder an den Ganges und Geschichten zurück nach Deutschalnd. Ihre Reisesplitter lassen uns erahnen, warum es sie immer und immer wieder in dieses riesige Land aus Farbe, Duft, Not, Zuversicht, Anmut, Heiterkeit und Hingabe zieht …
(mak)

Sinnliches Wiedersehn

Unmittelbar nach meiner Ankunft in Indien sauge ich jedes Mal gierig die Farborgien der anmutig wehenden Saris auf, verschlinge mit den Augen schneeweiße Jasminblüten in dicken, von Kokosöl glänzenden, kunstvoll geflochtenen Haarzöpfen der wunderschönen Mädchen und Frauen. Ich gehe unter in einer phonstarken, überschäumenden Kakophonie aus unbekannten Geräuschen. Mir wird schwindlig von den undefinierbaren Gerüchen, während ich mich an hinreißenden Kindern im Getümmel auf den quirligen, brüllenden Straßen ergötze. Und ich darf staunen über Inseln der großen Ruhe, die sich wie eine Fata Morgana nach einem orkanartigen Wüstensturm auftun.
Mit einem Mitarbeiter des Goethe Instituts tauchte ich nach getaner Arbeit in ein Mumbai ein, das mich vor Glück atemlos und sprachlos machte – ja fast taumeln ließ: Im Licht der untergehenden, rosafarbenen Sonne wuschen sich Großväter, Väter und Söhne andachtsvoll im Teich eines mittelalterlichen Tempels vor der Kulisse spiegelnder Glasfassaden luxuriöser Büro- und Wohntürme. Anschließend gaben sie sich mit ihren Familien in der perlmutt­farbenen Dämmerung barfuß den Abendritualen, den «Pujas», hin – inbrünstig betend auf der Suche nach der Nähe zum Göttlichen.
Dabei tritt die eigene Persönlichkeit in den Hintergrund und wird von göttlicher Kraft erfüllt. In einer rhythmischen Klangkaskade von Taviltrommeln und hellen, klaren Tönen der langen Nagaswaran- Blechhörner warten Gläubige gespannt – wie jeden Abend überall in Indien – auf die kurze Öffnung der goldenen Tür des Aller­heiligsten, in dem sich eine Gottheit befindet. Von ihr erhoffen sie sich betend Unterstützung und Hilfe. Manchmal möchten sie nur danken.
Frauen und Kinder mit Jasminblüten geschmückt und in schönster Kleidung mit goldenen und gestickten Borten standen in Mumbai Schlange, um die Flammen einer Öllampe mit den Händen und danach ihre Stirn zu berühren. Hinterher wurden sie mit geheiligtem Wasser für ihre innere Reinigung besprenkelt. Unzählige Lichter zuckten an den Wänden vor eindrucksvollen Steinreliefs. Auf grünen Blättern lagen die Opfergaben bereit: rosafarbene Lotosblüten, orange-gelbe Blumengirlanden, duftende Kokos­nussteile, glimmende Räucherstäbchen, kleine Butterkugeln und sorgfältig geglättete Geldscheine. Priester in weißen und orangefarbenen Hüfttüchern nahmen sie entgegen und legten alles dem Glück verheißenden Gott zu Füßen.
Vom Priester erhalten die gläubigen Hindus schließlich aus einer sandfarbenen oder roten Paste das kreisrunde dritte Auge, «Bindi», auf die Stirn als Zentrum des Alls getupft. Es gilt als sechstes Chakra und Sitz des geheimen Wissens.
Die Manifestation dieser überschwänglichen Götterverehrung spitzt sich in zahllosen pulsierenden Tempel­festen zu. Rund um die Uhr wird mit knatternden Gewehrschüssen, Feuerwerk und segnenden, liebevoll geschmückten Elefanten auf Blütenteppichen ge­sungen, getanzt, musiziert und gejubelt. In langen Prozessionen werden «Lieblingsgötter» – wie etwa «Ganesha» mit dem Elefantenkopf – gepriesen. Hingebungsvoll selbst gebaute Statuen aus Papp­maschee werden in langen Prozessionen durch Dörfer und Städte getragen, begleitet von dröhnender Filmmusik aus vorsintflutlichen, riesigen Lautsprechern –?überschwänglich und bis zur totalen Erschöpfung.

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Fotos: © Marie-Thérèse Schins

Archaische Abend-Augenblicke

In Mumbai, kurz vor Einbruch der nimmermüden Großstadt­nacht, saßen Familien in malerischen Gassen der Altstadt vor der Tür ihrer winzigen, bunt angestrichenen Einzimmerhäuser, aus denen es nach köstlichen Gerichten und Gewürzen duftete, und grüßten freundlich. Plötzlich hörte ich weibliche Stimmen und Gesänge, die an christliche Choräle erinnerten.
Magisch angezogen fand ich schließlich eine weit geöffnete Tür und blickte in einen Raum, durch dessen geöffnetes Fenster die letzten Sonnenstrahlen den Tempel im rötlichen Licht leuchten ließen. Alte Frauen mit traditionellem Goldschmuck, gehüllt in weiche, farbenfrohe Stoffe, saßen im Lotossitz auf dem Boden. Sie hielten sich an den Händen und wiegten sich im Rhythmus ihrer gesungenen Balladen. Eine schmale hohe Öllampe aus Messing warf mit andachtsvoll flackerndem Licht leichte, fast durchsich­tige, tänzelnde Schatten. Etwas Heiliges fand statt, zu dem ich keinen Zugang hatte. Aber ich durfte innehalten, an Augen­blicken teilnehmen, archaisch schöne Bilder für immer in mir verwahren.

Rituelles Kochen und Vergebung

Mir fiel das «Pongalfest» der Frauen in Kerala wieder ein. Ich schloss die Augen und ließ die fast unwirklichen Bilder zur Feier der Geburt des Neumonds im Januar und der Verehrung des Sonnengottes Soorya auferstehen. Ich sah, wie Frauen «Kolams», Mandalas aus bunten Reispulvern, geschickt und kunstvoll mit der rechten Hand vor die Haustüren streuten.
Danach suchten sie gemeinsam mit anderen Frauen und ihren Töchtern, die stolz als Prinzessinnen mit Goldkrone und im Festtagsgewand herausgeputzt waren, einen Platz in der Nähe des Tempels, notfalls am Straßenrand. Auf die Sekunde genau zur Geburt des Neumondes wurde gleichzeitig andächtig mit dem rituellen Kochen angefangen. Das Festgericht, «Pongal», wurde von jeder der Frauen auf der Erde über kleinen, selbst gebauten Feuer­stellen aus frisch geerntetem Reis, Dhal aus Linsen, Rohrzucker, Ghi-Butterschmalz und eidottergelbem Turmenicgewürz zubereitet. Mit einem pompösen Festakt wurde das Pongal als Buße und zur Vergebung von Sünden im Tempel geopfert und nur teilweise selbst gegessen.
Die Rauchschwaden der Holzfeuer lösten sich auf – ich war wieder in der Gegenwart, wieder in Mumbai, irgendwo mitten in der übervölkerten Millionenstadt, der Metropole mit dem aufstrebenden, glitzernden, internationalen Handelszentrum, in der die Schere zwischen Arm und Reich – wie fast überall in Indien und im Rest der Welt – immer weiter auseinanderklafft.

Unheimliches Indien – Apokalypse

Wer sucht, wird das alte Indien mit seinen verwunschenen, fast surreal anmutenden Plätzen und Ereignissen finden. Aber auch das abgrundtiefe, das unheimliche «India Obscura» von Aravind Adiga, dem gottbegnadeten Autor des Buches Der weiße Tiger, ist überall.
Auf einer meiner vielen Reisen ließ ich mich zum Entsetzen meines Fahrers im historischen Teil von Delhi irgendwann um Mitternacht an einem ausrangierten, heruntergekommenen Bahnhof absetzen. Genau dieses Indien reizte mich, ich wollte es unbedingt riechen, sehen, hören, spüren – mit jeder Faser. Ein gefährliches Unterfangen. Ganz allein betrat ich die Bühne einer Hölle, einer Apokalypse, wie von Hieronymus Bosch erschaffen. Sie war düsterer und fern jeglicher meiner Vorstellungen. Eine bestialisch stinkende Aufführung, in der sich Männer hinter vorgehaltenen
fransigen Wischlappen Schamhaare abrasieren ließen, Kinder im Vorschulalter von Zuhältern Rauschgift verpasst bekamen, schmuddelige Mädchen und Frauen im Dreck auf Kundschaft warteten. Daneben standen dreirädrige Holzkarren, auf denen in großen Töpfen in siedendem Öl Gebäck, Fladenbrote oder Gemüse frittiert wurden. Alte und kranke Menschen in schäbigen Lumpen streckten mir bettelnd ihre Hände entgegen. Pakete und Jutesäcke wurden in eine löchrig über­­dachte Halle geworfen, in der Obdachlose und irgendwie zusammengerollte Straßenkinder ihren Rausch ausschliefen. Brennender Müll und dazwischen wildernde, räudige Straßenhunde, die durch dunkel­braune modrige Pfützen tapsten. Bilder, die mich in Träumen immer noch besuchen. Diese Welt wollte ich nicht nur aus dem Roman oder dem Film Slumdog-Millionär verinnerlichen. Und – niemand belästigte oder bedrängte mich. Auch das ist Indien: Die Kehrseite der goldenen Medaille von Bollywoodscheinwelt und Super­reichen.

Heiliger Ganges, Tod und Erlösung

Varanasi, die heilige Stadt Shiwas, Gott der Zerstörung und der Erneuerung, hoch im Norden am heiligen Ganges mit mehr als tausend Shiwaschreinen, unzähligen Yogis und den mittelalter­lichen «Ghats», den hunderte Steinstufen zum Flussufer führenden Treppen, veränderte mein Leben. Vergessene Werte rückten in den Vordergrund, und ich versuchte, mich beim Anblick der lang verwurzelten Rituale, die ich auch von unserem Ruderboot aus eine Woche lang am Ganges beobachtete, in Demut zu üben. Sicher half dabei auch mein tiefgläubiger junger Reiseführer mit seinen innigen Erklärungen.
Seit Jahrhunderten gibt es in Varanasi Sterbehospize. Am Ufer, unter sternenklarem Himmel, wohnte ich ergreifenden Ver­brennungen von Verstorbenen bei, die nur dort rund um die Uhr, Tag und Nacht eingeäschert werden. Nach der rituellen Ver­brennung wird die Asche von den Harijans der heiligen Strömung und ihrer Göttin Ganga übergeben. Hier spürte ich überall den unerschütterlichen Glauben an ein besseres Karma nach der Wiedergeburt. Am majestätischen Ganges lernte ich wieder zu beten – in Moscheen und buddhistischen Tempeln fielen mir Gebete aus der Kindheit ein.

Liebeshochzeit in Kashmir

Arrangierte Ehen sind in ganz Indien und in allen Schichten üblich. Was hatte ich für ein Glück – war ich doch Gast in Srenegar, Kashmirs Hauptstadt, auf einer fünftägigen Liebeshochzeit. Die Vorbereitungen für die Braut im orientalisch anmutenden Hochzeitszimmer durch die Brautmädchen mit kostbaren, bestickten Gewändern, funkelnden Juwelen und mit Henna bemalten Händen und Füßen waren ebenso atemberaubend, wie die tage­-langen üppigen Festmahlzeiten köstlich waren, die von Männern im Hof der alten Häuser von Braut und Bräutigam am See Dal auf Holzfeuern zubereitet und zelebriert wurden.
Jeden Morgen weckten und überraschten uns Händler mit ihren kleinen Holzbooten, die an unserem riesigen alten Wohnboot
mit seinen kunstvollen Schnitzereien aus Rosenholz in jedem Zimmer anlegten. Sie fuhren bis an den Treppensteg und boten frische Gartenblumen in handbemalten Tonkrügen an, Kräuter und landes­typische, duftende Gebäcksorten für das Frühstück im plüschigen Salon. War der Morgen schon ein Sinnesfest, so setzte sich dies mit der Hochzeitsfeier fort.

Grenzenloses, märchenhaftes, idyllisches Indien?

Indien ist für mich nach wie vor die absolute Konfrontation mit mir selbst, eine nicht zu Ende gehende Ekstase. Der Subkontinent und seine Bewohner mit ihrem beharrlichen Glauben und Überlebenswillen berühren meine Seele zutiefst.
Je mehr ich über Indien weiß, umso weniger verstehe ich es. Indien, Mythos, My Dearest Love – vielleicht verstehe ich dich irgendwann einmal.
Im nächsten Leben.