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Marleen Nelen

ICH und DU und ER

Nr 154 | Oktober 2012

gelesen von Simone Lambert

«Denkst du nicht, dass Gott uns Flügel gegeben hätte, wenn er gewollt hätte, dass wir fliegen?»
«Er hat uns doch auch keinen Coble (ein Fischerboot) an den Hintern gebunden, oder?», sage ich bissig.
Charles zieht die Augenbrauen hoch: «Ich hätte nie gedacht, in diesem abgelegenen Kaff einen Freidenker anzutreffen. Und dann noch so einen jungen.»
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wächst der fünfzehnjährige Adam in einem englischen Fischerdorf auf. Die Männer fahren bei Wind und Wetter hinaus aufs Meer, die Frauen verrichten Haus- und Gartenarbeit und kümmern sich um die Netze. Adam bleibt an Land. Während sein Vater und sein älterer Bruder für den Lebensunterhalt fischen, verrichtet er die Frauenarbeit, streift über den Strand und spielt mit Shona, der schönen Tochter des Leuchtturmwärters, ein wildes Spiel: sie springen von den Klippen ins Meer – Adam, um zu fliegen, Shona, um zu tauchen.
Eines Nachts übergeben Schmuggler den Fischern einen geschundenen Mann: Charles, ein politischer Flüchtling aus Frankreich, quartiert sich in einem leer stehenden Haus ein. Der etwa 40-Jährige ist eine ungewöhnliche Erscheinung an diesem Ort: «Autorität und Grazie» bescheinigt ihm der Ich-Erzähler Adam. Charles ist gebildet, reich und attraktiv. Er hält das Dorf für rückständig, die Dorfbewohner ihrerseits misstrauen ihm. Und dann baut Charles mit Adam an einer Flugmaschine, Shonas Verlangen zieht sie zu Adams Bruder und Adam brennt vor Eifersucht …
Das ist eine dramatische Geschichte von Liebe und Freiheit vor einer rauen Kulisse und mit einer Vielzahl markanter Charaktere. Das Dorf, das fünfzehn Jahre nach der Französischen Revolution noch immer in quasi-feudalistischen Verhältnissen lebt, verlangt Anpassung von den Außenseitern. Adam, der mit seiner Intelligenz, seiner überbordenden Kreativität und seinem Traum vom Fliegen im Dorf fast verrückt wird, Shona, die von Louisa die Heilkunde lernt und leidenschaftlich zeichnet, Charles, der über Ingenieurs­wissen und Kenntnisse in der Feinmechanik verfügt – diese Freunde sind den Dörflern suspekt, weil sie sich den Zwängen der Gemeinschaft widersetzen.
Marlen Nelen hat einen großartigen historischen Roman über einen zeitlosen Konflikt geschrieben. Ihre Erzählweise, gespickt mit Symbolismen und Metaphern, macht das Meer, das raue Klima, die Naturgewalten zu Dominanten in einer Geschichte, die im Grunde ein Künstlerroman ist. Stürme, gestrandete Wale, Leuchtfeuer, Klippen, Fluggeräte und Schmugglerhöhlen sind die Attribute eines Aufbruchs, der ein ganzes Dorf in Aufruhr versetzt. Die Autorin folgt ganz den Sinneseindrücken und der Fantasie ihres Protagonisten und flicht archaisch-märchenhafte Elemente und Geschichten ein. So verarbeitet sie Adams Trauma vom Tod seiner Mutter in eine atemberaubende Halluzination, als er Alraune einnimmt. Ihre kraftvolle, bilderreiche Sprache entwickelt eine emotionale Wucht, die den Leser fast überrollt. – Aber beinahe noch berührender als Adams Liebe zu Shona wird die väterliche Freundschaft zu Charles geschildert, denn für Adam setzt sich Charles den Fäusten der Fischer aus und schützt dennoch das Dorf vor dem erneuten Angriff der Dragoner. Er ist es, ebenso selbstbewusst wie mitfühlend, der Adam seine Zukunft zeigt.

Eine dramatische Geschichte von Liebe und Freiheit mit einer Vielzahl markanter Charaktere vor einer rauen Kulisse.