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Adam Bittleston

Richtige Entscheidung

Nr 154 | Oktober 2012

Von der zweiten Forderung des achtgliedrigen Pfads

Wie ein Mensch denkt und Entscheidungen trifft, wie er redet und handelt, wie er sein Leben einrichtet und nach Zielen strebt, wie er vom Leben lernt und sich sammeln kann – das zeigt erst an, inwiefern er zu den Meistern des Lebens gerechnet werden kann. (lin)

Für den Menschen der westlichen Welt gründet eine der Haup­t­schwierigkeiten und eines der größten Rätsel des Buddhismus im Prinzip des anatta, das die Unsterblichkeit der menschlichen Seele oder eines eigenständigen Selbstes zu verneinen scheint. Wenn es aber kein wahrhaftes, unvergängliches Individual-Ich im Menschen gibt, wer ist es dann, der den heiligen achtgliedrigen Pfad einschlägt, wer ist es, der die richtigen Entschlüsse fasst? Der Buddhismus selbst ist sich immer der Tatsache bewusst gewesen, dass dieser Frage ein Paradox, ein Geheimnis zugrunde liegt, wie es der folgende Spruch ausdrückt:

Das Selbst ja ist des Selbstes Herr,
Das Selbst ja ist des Selbstes Weg.


Die Schwierigkeit besteht jedoch nicht nur in den Begriffen. Wenn wir älter werden, sind wir in der Lage, auf die Ent­scheidungen zurückzublicken, die wir in unserem Leben gefällt haben, und wir stellen fest, dass es gerade im Hinblick auf jene Entschlüsse, die wir als die besten und die erfolgreichsten für unsere Mitmenschen und uns selbst betrachten, nicht ganz einfach ist, zu sagen, wer sie denn eigentlich gefasst hat. Es scheint, als sei in jenen Augenblicken eine Harmonie zwischen den äußeren Gegebenheiten und etwas in unserem Innern ent­standen, das sehr viel tiefer verborgen ist als das «Ich», dessen wir uns gewöhnlich bewusst sind.
Das Alltags-Ich zeigt sich oft in Entscheidungen, bei denen wir uns im Widerstreit mit unserer Umwelt oder unseren eigenen wahren Fähigkeiten befinden, Entscheidungen also, von denen wir uns vielleicht bald distanzieren müssen. Aber nicht nur in den großen Entschlüssen unseres Lebens, die offensichtlich Bestand haben werden, können wir dem Wirken jener tieferen Kraft begegnen. Auch in belangloseren Dingen haben wir oft das Gefühl, dass die Entscheidung, die wir gefällt haben, ein Echo der Zustimmung aus verborgenen Tiefen in uns hervorzurufen scheint.
Das Wesentliche dabei ist jedoch nicht, dass solche Entschlüsse möglicherweise der Vernunft zuwiderlaufen. Freilich drehen sie sich oft um Angelegenheiten, in denen ein nach außen gewandtes, vernunftmäßiges Abwägen nicht zu einem definitiven Ergebnis führen würde. Wenn wir zum Beispiel heiraten, können wir nicht voraussehen, was die Zeit mit sich bringen wird. In dem Entschluss, zu heiraten oder einen bestimmten Beruf zu ergreifen, mag das tiefere Selbst jedoch mitgesprochen haben.
Ein lebendiges und imaginatives Denken, mit dessen Hilfe wir zumindest einen Teil der Auswirkungen des Schicksals begreifen können, wird uns helfen, die Kluft zwischen unseren alltäglichen Erwägungen und unseren innersten Entschlüssen zu überbrücken.
Wenn wir meditieren, halten wir den rastlosen Eifer unserer auf schnelle Ergebnisse gerichteten Gedanken zurück, und wir geben all dem, was in unserem Wollen verborgen ist, die Möglich­keit, dem Licht des Bewusstseins entgegenzuwachsen. Wir dürfen im Alter nicht denken, dass uns nur noch wenig geblieben ist und dass nur noch wenige Entscheidungen zu fällen sind. Denn seit wir die Lebensmitte überschritten haben, konnten wir schon viele Entschlüsse fassen, die nicht das derzeitige Leben betreffen, sondern eine Vorbereitung für ein zukünftiges sind, das wir nach einem Aufenthalt in der geistigen Welt führen werden.
Für den Frieden im hohen Alter ist es bedeutsam, dass die bewusst gefällten Entscheidungen in Zusammenklang stehen mit den großen, im Tiefschlaf gefällten Entschlüssen für ein zukünftiges Leben.