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Maja Rehbein

Das weiße Archiv

Nr 155 | November 2012

Ein Besuch im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar

Ein graues, wuchtiges Gebäude, so hatte ich das Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv in Erinnerung. Ab 2010 grundlegend saniert, wurde Deutschlands ältestes Literaturarchiv am 5. Juli 2012 wiedereröffnet. – Seltsam, wie hell, fast weiß der Bau jetzt ist! Und ein strahlendes Weiß ist die Grundfarbe im Innern; ein Weiß, das festlich stimmt. An Goethes und Schillers Büsten vorbei, trete ich oben in den stillen Mittelsaal mit der Ausstellung Schätze des Goethe- und Schiller-Archivs.
Von den Fenstern, neben den Büsten des Großherzogpaars Carl Alexander und Sophie, eröffnet sich ein heiterer Blick über Weimar.
Vier große pultartige Vitrinen zeigen unter Glas je vier Hand­schriften. Erwartungsvoll hebe ich die erste Schutzdecke. Eine Partitur von Liszt! Dann Nietzsches Die Geburt der Tragödie ..., ein Woyzeck-Fragment Georg Büchners, Hebbels Tagebuch! Besonders berührt Großherzogin Sophies Bleistiftskizze des künftigen Archiv­gebäudes.
Ein Brief Beethovens an Goethe, ein Brief Mozarts ... Jetzt Goethe selbst! Seine Reinschrift des Gedichts Frage nicht durch welche Pforte … und zwei Blätter aus Faust II. Wieland, Herder, und zuletzt:
Schillers Schreibkalender für 1796; die aufgeschlagene Seite vermerkt Goethes Besuch. Vor 216 Jahren!
Hundert Jahre später, am 28. Juni 1896, wurde das Archiv eingeweiht. Mein Blick findet die Büste von Sophie, die streng aussieht und voller Tatkraft und der wir Goethes schriftlichen Nachlass verdanken, den Walther von Goethe 1885 in ihre Hände legte. Später kam Schillers Nachlass von den Erben hinzu. Sie sorgte für die Unterbringung, zunächst im Schloss. Dann sollte, Goethes Welt­bürgertum entsprechend, ein Bau mit übernationaler, zukunfts­weisender Bedeutung erstehen.
Gleich wird geschlossen. Der vornehme hohe Saal mit den gittergeschmückten Galerien – alles weiß! Dieses Weiß und die Stille erhöhen noch die Wirkung der kostbaren Schriften.
Dem Mitarbeiter unten am Empfangstresen spreche ich ein begeistertes Lob aus. «Das wird unseren Direktor freuen», sagt er lächelnd. «Er steht gerade hier!» Überrascht begrüße ich Dr. Bernhard Fischer und freue mich über die Gelegenheit, ihm persönlich für die großartigen Eindrücke zu danken.
Draußen auf der großen halbrunden Terrasse bewundere ich den Bau im Ganzen, für den das Petit Trianon in Versailles Pate stand. Unter mir, in der «Schublade», ist ein modernes Tiefenmagazin eingebaut. Hier sind mehr als 130 Nachlässe von deutschen Dichtern, Gelehrten und Künstlern, dazu Verlagsarchive und Autographen verwahrt; insgesamt fünf Millionen Blätter! Die Sanierung verbesserte die Arbeitsbedingungen für Nutzer und Archivare. Vorzugs­weise dient das Archiv der Forschung, doch soll die Öffentlichkeit mehr Zutritt erhalten. Leider sind zehn Prozent des Bestands bedroht, vor allem von Tintenfraß. Spenden helfen, die Blätter zu restaurieren.
Ein fürstliches Portal im Park führt hinab zum Schloss. Von 1890 bis 1897 wirkte Rudolf Steiner dort an der Sophienausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften mit. Daneben erarbeitete er die philosophischen Grundlagen der späteren Anthroposophie.
Oben thront majestätisch das helle Archiv. Seine Restaurierung ist ein großer Schritt in Richtung «Kosmos Weimar» – einem Plan, der Weimars kulturelle Geschichte, Gegenwart und Zukunft zur «res publica europea» steigern wird, wobei dem Schloss zentrale Bedeutung zukommt. Weimar, die heimliche geistige Hauptstadt Deutschlands? Mehr noch: Weimar als lebendige Mitte und künf­tiger Lernort europäischer Kultur!

«Ich habe geerbt, und Deutschland und die Welt soll mit mir erben!» Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach

Foto: Der Mittelsaal / Jens Hauspurg / © Klassik Stiftung Weimar