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Marie-Thérèse Schins

Akhil Kakerlake und Neena Stinkefisch

Nr 155 | November 2012

gelesen von Simone Lambert

Akhil blickt bestürzt in Neenas angstgeweitete Augen – und schon ist der rostige Autobus vorbeigefahren. Dass die beiden sich wiedersehen werden, ahnen sie nicht. Akhil wohnt in einem abgelegenen Dorf im Landesinneren, inmitten von Palmenhainen und Bananenplantagen, während Neena in einem Fischerort am Arabischen Meer lebt. Beider Familien sind arm und ihre Kinder erwartet dieselbe Zukunft: Schulabbruch nach der sechsten Klasse, um zu arbeiten und zu heiraten. Aber Neena will nach Muscheln tauchen, wie ihr Vater, der sie nachts heimlich schwimmen lehrt. Sie will Meeres­biologin werden und das Dynamitfischen verhindern. Auch Akhil wird schwere körperliche Arbeit verrichten müssen, wie sein Vater. Für den Familienausflug nach Trivandrum, bei dem Akhil aus dem Bus heraus Neenas Blick auffängt, hat sein Vater jahrelang gespart.
Neena ist ein eigenwilliges Mädchen und nicht auf den Mund gefallen. Wenn sie ihrer Großmutter aus der Zeitung «vorliest», erfindet sie Geschichten und revanchiert sich damit bei der Genasführten für deren Schimpftiraden. Und den Jungs in ihrer Klasse, die sie «Neena Stinkefisch» nennen, geigt sie die Meinung. Akhil, ebenfalls elf Jahre alt, zieht sich zurück, wenn es schwierig wird. Auch er hat einen Erzfeind, der ihn wegen seiner heimlichen Liebe zu Ambeli aufzieht und ihn als «Kakerlake» verspottet. Akhil ist in die acht Jahre ältere Dorfschönheit aussichtslos verliebt. Durch sie wird sich Akhil bewusst, dass er Lehrer werden und für bessere Lebensbedingungen in seinem Dorf arbeiten will.
Als Neenas Vater eines Tages beim Tauchen schwer verletzt wird, ist es seine Tochter, die dafür sorgt, dass ihr Vater ins Hospital nach Trivandrum gebracht wird. Während er operiert wird, lernt Neena die Zahnärztin Elizabeth Koshi kennen. Sie weiß noch nicht, dass diese Begegnung ihre Zukunft verändern wird …
Indien ist, trotz Globalisierung, noch immer ein ferner Kontinent. Klima und Lebensweise sind so verschieden von dem, was Europäern vertraut ist, dass auch ein Flugzeug oder ein Smartphone die Entfernung zwischen den Kulturräumen nicht überbrückt. Deshalb wohl hat sich Marie Thérèse Schins entschieden, ihren europäischen Lesern unvermittelt vom Leben zweier indischer Kinder zu erzählen, die sich einen eigenen Weg aus der Enge der Not und der Konventionen bahnen. Die Autorin hat das Kunst­stück vollbracht, die Alltagsverhältnisse im heutigen Indien zu spiegeln – mit seinen unvorstellbaren existentiellen Nöten, einer prekären hygienischen Situation und traditionellen Lebensplänen, die von pompösen Bollywood-Filmen affirmiert werden – und dennoch eine schwungvolle, optimistische Geschichte mit leben­digen Charakteren zu schreiben.
Akhil und Neena werden sich wieder begegnen, Freunde werden und sich gegenseitig ermutigen. Ihre Hoffnung ist realistisch, denn es gibt Menschen wie das Ärzteehepaar Koshi, die mit ihrer Stiftung Kindern zu einer Ausbildung und zu einer selbst bestimmten Zukunft verhelfen. Hoffnung gibt es, weil Kinder wie Neena und Akhil ihr erworbenes Wissen an die Gemeinschaft zurückgeben wollen. Hoffen darf Neena aber vor allem deshalb, weil am Ende die als erste diesem Plan zustimmt, von der sie es am wenigsten erwartet hätte: ihre strenge Großmutter. – Der Wandel in Indien wurzelt in den schweren Erfahrungen der Alten.

In diesem Buch gelingt das Kunst­stück, die Alltagsverhältnisse im heutigen Indien unverschleiert zu zeigen und dennoch eine schwungvolle, optimistische Geschichte mit leben­digen Charakteren zu erzählen.