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Friedel Lenz

Bildsprache der Märchen

Nr 155 | November 2012

Was verraten uns die Bilder in den Märchen?

Oft tritt die Frage auf: Wann und in welchem Alter erzählt man dem Kind Märchen und mit welchem fängt man an? Die Antwort lautet: Das Hauptmärchenalter liegt zwischen vier und neun Jahren. In dieser Zeit sollte jedes Kind unbedingt Märchen zu hören be­kommen. Freilich sollte man sie durchs ganze Leben hindurch nie verlieren und sie immer in sich aufnehmen, aber in diesen frühen Jahren gehören sie einfach zu einer aufbauenden Seelennahrung. Nun können manche märchenlustigen Eltern das vierte Jahr kaum erwarten, besonders nicht beim ersten Kind. Aber das ist zu früh. In dieses Alter gehören Reime und Fingerspiele, die dem Kind seinen Körper vertraut machen, in ihren Wiederholungen die Lust am Rhythmus befriedigen und seinen Wortschatz erweitern. Dazu kommen kleine Erzählungen von den Dingen um uns herum.
Beginnt man dann mit Märchen, so sei man damit äußerst sparsam. Ein kleines Märchen genügt für viele Wochen. Immer wieder erzähle man es. Man muss beileibe nicht meinen, den gesamten Schatz der Kinder- und Hausmärchen gleich auszuschütten.
Man fängt natürlich mit den leichtesten und einfachsten Märchen an, die nicht viel Fremdes enthalten, deren Darstellung aus der Umwelt des Kindes stammt. Das Märchen vom süßen Brei zum Beispiel, kein eigentliches Märchen, mehr eine märchenhafte Erzählung, enthält ja nur eine Hauptwahrheit, dass man das rechte Wort nicht vergessen darf. Das ist dem Kind schon gut vorstellbar. Als echtes Märchen, in dem also ein längerer Prozess geschildert wird, folgen das Sterntalermärchen und Der Wolf und die sieben jungen Geißlein. Später kommt Rotkäppchen dazu, Hänsel und Gretel und Die sieben Raben. Dornröschen nicht zu vergessen. Kommt eine Sache darin vor, die das Kind nicht kennt, zum Beispiel die Kreide, so zeigt man ihm Kreide oder erklärt, was das ist. Das Kind soll eben am Märchen auch klare Vorstellungen über die äußeren Dinge ge­winnen und seinen Sprachschatz erweitern.
Man braucht nicht immer das ganze Märchen zu erzählen. Goethes Mutter verstand es gut, ihrem Wolfgang gerade so viel zu erzählen, dass er in höchster Spannung warten musste, wie es am anderen Tag weiterging. Mit einer geschickten Wendung brach sie dann ab, etwa, dass es nun eine Weile dauere, bis der Held da und dahin gelangt sei, oder dass man nun eine Nacht darüber erst schlafen müsse oder so ähnlich.
Da es sich bei allem Geschehen in den Märchen um innere Vor­gänge handelt, dürfen auch die sogenannten Grausamkeiten keinesfalls als solche verstanden werden. Unverbildete Kinder wissen dies. Einige Beispiele mögen es im Folgenden verdeutlichen:
Augen ausstechen, Augen auspicken: Das geistige Sehvermögen ist gemeint. Also bedeutet dies: Die Schau nehmen, die An-Schauung, die Sicht, wie auch in den Bildworten: Eine Sache «sticht» ins Auge; ich habe «mein Auge darauf gerichtet».
Aussetzen von Kindern: Noch unschuldige, unentwickelte Kräfte werden dem Wirrsal und der Wildheit der Triebnatur preisgegeben.
Hand abschlagen: Handeln, Handlung, Handhaben leiten sich vom Wort «Hand» ab. Der Verlust versinnbildlicht, dass man handlungsunfähig wird. Der Mensch kann sein Schicksal nicht mehr mitgestalten, verliert seine Entscheidungskraft.
Verbrennen, braten, kochen, backen: Feuer kann zweierlei bedeuten: Das Feuer des Geistes: der zündende Funke, die lodernde Flamme der Begeisterung; aber auch das Feuer der Begierde: schwelendes oder aufloderndes Feuer der Leidenschaft, Hexenfeuer, magisch wirkendes Begierdenfeuer. Somit bedeutet das Verbrennen entweder, etwas dem reinigenden Feuer oder aber dem vernichtenden Feuer zu überantworten.