Ilse Wellershoff-Schuur im Gespräch mit Frank Berger

Sha’ar laAdam – Bab l’il Insan

Nr 156 | Dezember 2012

Israel / Palästina ist Begegnungsort von Kulturen, Zivilisationen, Völkern und Religionen. Hier trifft Ost auf West, Nord auf Süd, Arm auf Reich, Technologie auf ethnischen Fundamentalismus aller Art, Stammes- und Nomadenkultur auf sozialistische Kollektivsiedlung – und das alles im Spannungsfeld der Weltreligionen: Judentum, Christentum und Islam. Soziale und religiöse Konflikte, die hier entstehen, können schnell weitgreifende Folgen haben. Diese zunächst unlösbar erscheinenden Verstrickungen lähmen die Hoffnung auf ein gedeihliches Zusammenleben in diesem krisengeschüttelten Land. Aber was sich vielerorts immer weiter polarisiert und zu verhärten droht, führt auch zu neuen Ansätzen der Sozialgestaltung. Eine besondere Initiative, die sich um Dialog und Befriedung in dieser Region bemüht, ist die Begegnungsstätte «Sha’ar laAdam – Bab l’il Insan», auf Deutsch: «Tor zum Menschen». Wir sprachen mit einer Initiativträgerin dieses Pionierprojekts in Galiläa im Norden Israels, der deutschen Pfarrerin Ilse Wellershoff-Schuur.

Frank Berger | Frau Wellershoff-Schuur, was hat Sie bewogen, sich in dieser Weltgegend zu engagieren?
Ilse Wellershoff-Schuur | Nun, wir haben das nicht am «Grünen Tisch» geplant. Es ist aus ganz persönlichen Kontakten entstanden, die noch aus meiner Zeit als Lehrerin stammen. Ich lernte einige der Lehrer der ersten Waldorfschule im Kibbuz Harduf kennen. Dann habe ich Reisen dorthin unternommen, zunächst allein,
später mit meinen Kindern. Sie waren es eigentlich, die dann gesagt haben, wir müssen das auch für andere möglich machen, denn eine Reise ins Heilige Land verändert gerade Jugendliche sehr stark. Dieses Land macht in Bezug auf die heutigen Verhältnisse auf der Welt vieles unmittelbar erlebbar, denn es ist einfach eine Tatsache, dass die Probleme der Welt hier quasi alle gleichzeitig vorhanden sind. Schon 1996 entstand der Impuls, es müsse eigentlich so etwas wie eine Begegnungsstätte geben. Am Anfang war da der Gedanke, das müsse sich zwischen Europa und Israel abspielen, insbesondere zwischen Deutschland und Israel, damit speziell deutsche Jugend­liche dieses Erlebnis haben konnten. Sehr rasch spielten dann neben dem Kibbuz Harduf auch die arabischen Orte in der Umge­bung eine Rolle. Die deutschen Jugendlichen interessierten sich genauso stark für die arabischen Nachbarn und ihre Kultur. Es entstand auf beiden Seiten ein wachsendes Interesse füreinander.
So wurde nicht nur in Harduf unser Impuls aufgegriffen, und wir haben gesagt: Wir wollen eine Begegnungsstätte der Kulturen hier im Land schaffen.

FB | Können Sie ein paar Worte über den Kibbuz Harduf sagen?
IWS | Harduf hat heute ungefähr 700 Einwohner. Es gibt dort eine Waldorfschule, eine Lehrerausbildung, anthroposophische Ärzte, künstlerische Ausbildungsgänge – und viel biologisch-dynamische Landwirtschaft. Es gibt sozialtherapeutische Einrichtungen für erwachsene Seelenpflege-bedürftige Menschen, für verhaltensge­störte Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen und für trauma­geschädigte Menschen.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | Ilse Wellershoff-Schuur (Szenenbilder)

FB | Was für Menschen leben hier? Welchen Bevölkerungsgruppen und Religionsgemeinschaften gehören sie an?
IWS | Unsere Begegnungsstätte liegt im Wald, genau zwischen dem Kibbuz Harduf und dem Beduinenort Ka’abiya. In Harduf wohnen jüdische Israelis, weltoffen, suchend, oft sehr gebildet, aus eher europäisch gesinnten Familien, kulturell aktiv und eher säkular. Es sind also zwar sehr spirituelle, aber nicht im jüdischen Sinne «religiöse» Menschen. In den arabischen Orten im Umfeld wohnen verschiedene Beduinenstämme, die noch sehr im Sippen­bewusstsein leben, muslimisch, ebenfalls nicht strenggläubig, obwohl der Fundamentalismus auf dem Vormarsch ist, weil viele unter den Verhältnissen leiden und darum allem Westlichen kritisch gegenüberstehen. Sie leben sehr ländlich, meist von der Landwirtschaft, aber sie fangen an, auch durch das israelische Schulsystem, das den Arabern eine gewisse Autonomie gewährt, mehr Bildung und Wohlstand zu erlangen.
Unser weiteres Umfeld sind arabische Städte, in denen es relativ viele christliche Araber gibt. Dazu andere jüdische Gemein­schaften, aus denen Menschen ihre Kinder in die Schule in Harduf oder in die umliegenden Waldorfschulen schicken, Menschen aus dem Großraum um Haifa, und dann geht es weiter ins ganze Land. Wir liegen etwa auf halber Strecke zwischen Haifa und Nazareth.
Wir haben häufig Treffen, zu denen Leute aus dem ganzen Land oder aus dem Ausland kommen. So haben wir jetzt gerade eine Gruppe von jüdischen Waldorfschülern und arabischen Staats­schülern, die gemeinsam an unserem Projekt Nathan der Weise arbeiten und das dann zusammen mit einer Gruppe aus Deutschland zur Aufführung bringen. Wenn man sieht, wie verschieden diese Kinder sind, wie unterschiedlich viel sie zum Beispiel gereist sind, wie weltoffen sie sind, dann merkt man, dass doch eine viel größere Kluft zwischen den hiesigen Schülern, jüdischen Israelis, und den arabischen Menschen hier besteht als zwischen den jüdisch-israelischen und den europäischen Schülern, die sich viel ähnlicher sind. Da ist ein Stück Europa mitten im Nahen Osten gelandet – und das muss jetzt irgendwie überbrückt werden. Wir finden hier das ganze Grundproblem des israelischen Staates in dieser Region wie in einer Nussschale wieder.

FB | Was geschieht konkret in Sha’ar laAdam – Bab l’il Insan?
IWS | Wir haben gerade eine deutsche Gruppe hier zu Besuch. Die muss beherbergt werden. Wir haben im Moment bisher nur so etwas wie einen einfachen Campingplatz. Es gibt einen wunderbaren Steinkreis in der Mitte, mit einer Lagerfeuerstelle und einem Zeltdach darüber. Es gibt einige Zelte mit Fundament und mit Öfen, in denen jugendliche Volontäre zeitweise wohnen können. Wir haben eine große Freiluftbühne, da proben wir gerade den ganzen Tag. Unsere Jugendlichen schlafen in Zelten oder einfach unter freiem Himmel, verköstigen sich aus der primitiven Küche, duschen im Wald, und zwischendurch fahren sie ihre Freunde besuchen. All das will organisiert werden. Die Theater- und Sprachgestaltungsschule in Harduf arbeitet hier regelmäßig mit zwei Waldorfschulen und parallel dazu mit zwei arabischen Schulen im Umland, jeweils in vier Oberstufenklassen mit Projekt­unterricht, der als Wahlfach gilt. Dann werden regelmäßig die Jahresfeste gefeiert, den muslimischen Ramadan mit dem Fastenbrechen, oder Sukkot, das Laubhüttenfest, das hier mit Michaeli zusammen gefeiert wird – beliebte «Festivals» für alle Menschen im Umland. Dazu gibt es die allwöchentliche Arbeit, also die Theaterarbeit, die Frauengruppenarbeit, die ökologische Arbeit am Wald und so weiter.

FB | Zu Ihnen kommen also vor allem junge Menschen?
IWS | In der konkreten täglichen Arbeit sind die Mitarbeiter meist Studenten, die in Harduf eine Ausbildung machen. Es gibt unter anderem die Lehrer- und die Heilpädagogenausbildung, dazu besagte Theaterschule und ein anthroposophisches Grund­bildungsjahr – sehr gefragt vor allem von jungen Menschen, die nach dem Militärdienst stark auf der Suche sind. Hier wirkt sich auch aus, dass es inzwischen 14 Waldorfschulen in diesem kleinen Land gibt, von denen eine arabisch ist. Die Initiatoren selbst sind eher aus der Generation, die Harduf 1982 begründet hat, also etwa Mitte fünfzig. Hier entstand eine weitere interessante Initiative, eine Art «Friedensplan». Sie hat sich inzwischen ziemlich ausgebreitet. Der Grundgedanke ist, dass es in diesem Land einen jüdischen und einen palästinensischen Staat geben muss, die sich aber nicht sauber geografisch voneinander trennen lassen, d.h. man müsste diese Staaten aus Gründen der Praktika­-bili­tät so gründen, wie sie sich jetzt geografisch aufgrund verwickelter politischer Verhältnisse darstellen – aber eigentlich gehört das ganze Land beiden Völkern. Das würde bedeuten, dass jeder Mensch, der irgendwo im Land wohnt, die Möglichkeit haben könnte, zu einem oder beiden Staaten zu gehören, und man wäre dadurch zu einer erhöhten Zusammen­arbeit gezwungen – sehr vereinfacht gesagt.

FB | Ist das nicht eine Utopie?
IWS | Ich glaube, dass diese Utopie sich nicht hundertprozentig verwirklichen lassen wird. Es gibt auf beiden Seiten Extremisten, die das ganze Land für sich allein haben wollen. Sie werden aber weniger Anhänger haben, wenn diese Utopie im Kleinen umgesetzt wird. Wir wollen keineswegs das ganze Land irgendwie missionieren; sondern wir legen durch diese Zusammenarbeit im Kleinen und das Beispielhafte, das auch etwas Spirituelles sein muss, so etwas wie einen Samen für das, was in der Begegnungsstätte Sha’ar laAdam – Bab l’il Insan als «Tor zum Menschen» zum Keim heranwachsen kann. Allerdings: Das Tor kann auch irgendwann zugehen. Im Moment ist es noch auf. Wenn wir bald etwas tun, wenn wir zum Beispiel anfangen können, das geplante Andachtshaus zu bauen, so kann das vielleicht noch etwas bewirken. Aber wir haben nicht ewig Zeit für diese Dinge.

FB | Hier hört man eigentlich fast immer nur von den Fronten, die sich zunehmend bilden, und der immer stärkeren auch innenpolitischen Polarisierung in Israel.
IWS | Trotz dieser Trends gibt es im ganzen Land viele gute Initiativen, die Veränderung bewirken
wollen. Selbst im «extremen» Jerusalem existiert so etwas wie eine übergreifende religiöse Friedens­bewegung. Es gibt sehr stark religiöse Menschen sowohl im Muslimischen, oftmals aus dem Sufismus, wie auch im Jüdischen, Leute, die miteinander reden und sagen: Wir haben doch eigentlich nur eine unterschiedliche Sichtweise auf die eine göttliche Realität. Es ist hier immer die Frage, ob Religion polarisiert oder verbindet. Oft wird Religion hier auch völlig abgelehnt, weil das Bild von Religion überall ein fundamentalistisches ist. Da setzen wir mit unserem Projekt eines «Hauses der Andacht» an. Es wäre fatal, das religiöse Leben insgesamt abzuschaffen, nur weil die Menschen die Religion im alten Sinne missbrauchen, um national-egoistische Gruppen zu bilden. Wir möchten eine völlig neue Art von religiösem Leben dort schaffen, wo alle am gleichen Ort beten können und miteinander das herausfinden, was sie eint in dem, worauf sie da schauen.