Ralf Lilienthal

Geschichten aus dem Schwaben-Wald

Nr 156 | Dezember 2012

Über den Schönbuch und seine Liebhaber

Das Klischee «Deutscher Wald» ist nach wie vor idyllisch ausge­stattet: Eiche und Buche, Hirsch und Fuchs, Förster und Wanders­mann. Dazu Lyrik und Lieder satt. Und, wie ein Konzentrat, die ewiggleiche, in Öl gemalte, baumdunkel umrahmte Lichtung, samt imposantem Sechzehnender, der seinen Anspruch auf ein Halb­dutzend Hirschdamen in den Himmel röhrt.

Jenseits des Klischees ist es abwechslungsreich schön

Was aber findet, wer den goldbarocken Rahmen anhebt und hinter dem Kitsch die heutige Wald-Wirklichkeit sucht? Eine bunte Menge sehr verschiedener Wälder! Kleine, auf einen Blick überschaubare Parzellen inmitten landwirtschaftlicher Produktions­flächen. Kiefern im Märkischen Sand. Dunkle Fichtenforste. Sumpfige Erlenbrüche. Und die Krüppeldickungen der alpinen Berghänge. Und wenn man Glück hat, zumal im sonnendurch­fluteten Herbst, erglänzen Wald-Kleinodien, wie der in die Metropol­region «Mittlerer Neckar» eingeschmiegte, jahrhunderte­alte «Schönbuch». Von den Ecksteinen Stuttgart, Tübingen, Reut­lingen und Böblingen gefasst, erstreckt sich diese laubbaumreiche Waldkulturlandschaft auf einer Fläche von über 150 Quadrat­kilometern und wird dabei – wie ein schwäbischer Central-Park – kaum von Straßen und Siedlungen zerschnitten.
Eines der schönsten Tore in den Schönbuch durchschreitet der Wanderer im alten Zisterzienserkloster Bebenhausen, heute der Ort, an dem die unsichtbaren Verwaltungsfäden zusammenlaufen, an denen seit 1972 das Rechtsgebilde «Naturpark Schönbuch» hängt. Naturpark? Obwohl gut dreißig Prozent der bundesdeutschen Flächen zu einem der 104 Naturparks gehören, wissen nur wenige, was darunter zu verstehen ist und wodurch sich ein Naturpark von naturräumlichen Konstruktionen wie «National­park», «Biosphärengebiet», «Fauna-Flora-Habitat», «Natur-», «Landschafts-» oder «Vogel-Schutzgebiet» unterscheiden mag.

«Wald bleiben!» – mancher Protest hat Erfolg

Wie der Schönbuch zum ersten Naturpark Baden-Württem­bergs wurde, ist vielen Anrainern dagegen noch gut in Er­innerung. Den Stuttgarter Flughafen wollten die Verantwort­lichen erweitern und maßen dafür als Erstes den wirtschaftlich «nutzlosen» Wald mit kaltem Blick. Der Protest kam heißblütig und prompt. Ob Naturfreunde oder Heimatverbundene – einzeln, gruppen-, stadt- oder landkreisweise legten sie Widerspruch ein und hatten Erfolg. Die neue Startbahn blieb dort ebenso ungebaut wie später die geplante «Schönbuch-Teststrecke» des Auto­riesen mit dem Stern.
Stattdessen schmiedeten die Schutz-Interessierten mit dem «Natur­park Schönbuch» ein Instrument, das es in ihrem Bundes­land bislang noch gar nicht gab. «Naturparks umfassen schöne, schützenswerte Landschaften mit einem möglichst hohen Anteil etwa an Natur- und Landschaftsschutzgebieten. Dabei sollen die Be­sucher aber nicht außen vor gelassen oder gar ausgesperrt, sondern in geeigneter Weise an die Natur herangeführt werden.» Was Mathias Allgäuer, der Geschäftsführer dieses kleinsten Naturparks Baden-Württembergs so präzise beschreibt und in seiner täglichen Arbeitspraxis umzusetzen sucht, steht gleich von zwei Seiten in der Kritik. «Für die einen sind wir verkappte Touristiker und machen ‹Naturschutz light›. Andere sehen uns als Bremser, die das Naturidyll wollen und dabei den handfesten individuellen oder gesellschaftlichen Profit verteufeln und verhindern.»
Tatsächlich beackert der gelernte Förster mit überschaubarem Budget und überraschend kleinem Personalschlüssel beharrlich und unbeirrt ein buchstäblich weites Feld. Die Hauptaufgabe? Informieren. Heranführen. Vertraut machen. Gemeinsam weiterentwickeln. Seine wichtigsten Helfer sind dabei die örtlichen, schon längst über das alte, autoritäre Beamten-Korsett hinausgewachsenen Revierförster. Und die Ehrenamtler! Was würde man im Schönbuch nur ohne sie machen? Die leidenschaftlichen Sammler alter Geschichte(n), die Naturkundigen und Natur­führer, die Anpacker und Aufräumer, die Animateure und Amateure.

Unruhestand im Wald

Einer dieser Unermüdlichen ist Albert Renz, Drechsler im Un­ruhestand, dessen Passion den steinernen Kleindenkmälern des Schönbuchs gilt, aber auch dem Rotwild und wohl noch vielem mehr, was ihm im Wald vor Augen und vor das Objektiv seiner Spiegelreflexkamera kommt.
Dass er und die anderen «Fotojäger» gar nicht einmal selten zum gelungenen Schuss kommen, verdanken sie einem einzigartigen Experiment: Im Schönbuch wurden unvorstellbare 4000 Hektar Wildgehege mit sechs großen Wildruhezonen eingerichtet – eine Fläche, die zugleich Schutzraum und Begegnungsstätte ist. Denn gerade weil das Rotwild weiß, dass der Mensch seine Äsungs­plätze verschont, lässt es sich von den bewegungslos hinter holzverkleideten Ansitzen beobachtenden Naturfreunden nicht einmal bei der frühherbstlichen Brunft stören.

  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
Fotos: © Fotos: Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

Vielender mit Tradition

Nicht zuletzt dem Wild verdankt der Schönbuch wohl auch seine über Jahrhunderte ungebrochene Wald-Historie, genauer gesagt den Fürsten und Königen, deren bevorzugtes Jagdrevier er war und bleiben sollte.
Auch hier spielt Bebenhausen eine bedeutende Rolle. Als Prä­monstratenserkloster 1183/84 gegründet, bald darauf vom aufstrebenden Zisterzienserorden übernommen, wird es im Zuge der Reformation in eine evangelische Klosterschule und ge­wisser­maßen zum «Zulieferbetrieb» der Tübinger Universität verwandelt. Spätestens als die von Napoleon ins Königsamt erhobenen Ludwigs­burger Herren das idyllische Bebenhausen zum Jagd­schloss umbauten, kam das Landvolk immer wieder in den zweifelhaften Genuss der königlichen Hofjagden. Auch wenn etwa Wilhelm II., bis zur Revolution von 1918 der letzte württem­­-bergische König, ein ernsthafter und sicherlich auch fähiger Jäger war, lässt sich die im Dianenfest von 1812 schrecklich kulmi­nierende Prunk- oder Festinjagd nicht im Geringsten mit den heutigen, der besonnenen Wildreduzierung dienenden Drückjagden vergleichen. Über Monate in immer kleinere Gatter zusammengezogen, wurden dazumal einige Hundert Hirsche, Rehe und Wildschweine gewissermaßen auf Einbahnstraßen an den Sitzplätzen des Adels vorbeigetrieben und regelrecht abgeschlachtet.
Inzwischen jedenfalls sind die Tage der Könige in Bebenhausen endgültig gezählt, auch wenn Wilhelm (bis 1921) und seine Frau Charlotte (bis 1946) an diesem liebgewonnenen Ort ein geduldetes Exil verleben durften. Unfeudal und schwäbisch-sparsam waren die dann folgenden sechs Jahre Württembergisch-Hohenzollerischer Landtag. Gerade einmal 22 Pfennig je Steuerzahler und Jahr kosteten die in kargen Mönchszellen hausenden knapp 50 Abgeordneten. Heute ist Bebenhausen Forstverwaltungssitz, Museum und in jedem Fall eine Reise wert!

Ja, wo laufen sie denn …

Waldwärts verlässt der Schönbuch-Wanderer das Kloster durch ein unverbautes, den natürlichen Mäandern des Goldersbach folgendes Tal. Einige Kilometer bergauf, zwischen Teufelsbrücke und Soldatengrab, kommt es für Ortsfremde gelegentlich zu einer Begegnung der unwirklichen Art. Denn während er seinem Gehrhythmus folgend die Landschaft genießt, rauscht mit kurzen Sporthosen und sehr viel dunkler Haut eine vielbeinige Fata Morgana an ihm vorbei, unbegreiflich schnell und doch scheinbar mühelos. Tatsächlich befindet man sich in Richtung Königlicher Jagdhütte auf einer weltweit legendären Route. «Sie ist 21 Kilometer lang, voller ungeschriebener
Ge­schichten und Zeiten, die wie die Einträge eines Logbuchs von Läufergeneration zu Läufer­generation weitergegeben werden.» Und das sagt nicht irgendeiner, sondern der, der selber am Anfang der Legende steht: Dieter Baumann, 5000 Meter-Olympiasieger von 1992 (und vieles mehr). Als er und seine Frau, die Langstrecken-Bundestrainerin der Herren Isabelle Baumann, von der Alb hinunter nach Tübingen zogen und den Schönbuch zu ihrem Waldstadion erkoren, folgten ihnen nicht nur, mit Läufern wie Filmon Ghirmai und Arne Gabius, die deutsche Lang­strecken­elite, sondern nach und nach afrikanische Weltklasse­athleten vom Range eines Laban Chege, Tendai Chimusasa oder Bernard Lagat. Die Tübinger Mallestraße wurde so – «charmant und ganz ohne Masterplan» – für die Läufer aus Kenia und Simbabwe zum europäischen Sommersitz und zum Verweilort zwischen den großen Leichtathletikfesten. Und der Schönbuch? «Die Jungs lieben den Wald und sie schätzen sehr, dass es hügelig ist.» Und schön, denn «die Seele läuft immer mit! Wenn man frühmorgens am Teich das Konzert der Frösche hört, bleibt auch ein Weltklasseläufer stehen und hört für einen Moment ver­zaubert zu.»

Stein auf Stein – innehalten, weitertragen

Bevor wir den Schönbuch verlassen, werfen wir noch einen Blick auf seine Steine. Keupersand-Bausteine für den Kölner Dom oder das Ulmer Münster wurden hier gebrochen. Mühlsteine geformt. Und Gedenksteine errichtet: Thron­jubiläen und Försterabschiede, Blitztote und Erschlagene und immer wieder Mord und Totschlag, alles im Stein festgehalten nach alter Art.
Oder nach neuer Art! Denn obwohl Material und Ort gleich geblieben sind, arbeitet der im Schönbuch bei Hildrizhausen wirkende Künstler Nikolaus Fischer mit dem mineralischen Baustoff nicht nach Art der Stein- und Bildhauer-Generationen vor ihm. Wenn ein Vergleich erlaubt ist, dann eher der mit den (prä-)historisch allerfrühesten Stein- und Landmarkensetzern. Als Fischer an einem Wintertag des Jahres 2004 den Hauptweg verließ, sich buchstäblich durch die Büsche schlug, Steine auflas und zu faszinierenden Formen und Strukturen aufschichtete, war er dafür – wie sich rückblickend zeigt – biografisch und künst­lerisch lange vorbereitet. Der Urenkel des Jugendstilkünstlers Bernhard Pankok, Sohn eines Kunstlehrers und gelernter Schreiner, entwickelte frühzeitig eine Affinität für die Formen­sprache der Natur, für archaische Kulturen und den Übergang zwischen heidnisch-schamanischer und christlicher Spiritualität. Ausgangspunkt seiner bis heute anhaltenden Reise in den Wald war eine seelische Erschütterung. Ihr anschaubares Ergebnis ist eine Folge anrührender, fragiler Stein­for­mationen, die Fischer in nachvollziehbaren bildstarken Begriffen wie «Schrein», «Wächter», «Kapelle» oder «Thron» beschreibt.
Fischers Schönbuch-Steinbezirk ist ein besonderer Ort. Kein Kunst-Objekt, das laut um Aufmerksamkeit buhlt. Vielmehr ein steinernes Zeugnis dessen, «was ein einzelner Mensch bewegen kann». Und ein Zeugnis dessen, was ihn selber bewegt.