Oh ja – «das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde ...», da können Anne-Katrin und Steffie, Marie-Luise und Laura zu-stimmen. Auch Marie und ihr Bruder Theodorus, die die Grundschule Pulvermühle in Berlin besuchen, können nicht genug davon bekommen, die braune Maja mit der dichten struppeligen Mähne, dem weißen Stern auf der Stirn und den glänzenden Augen zu streicheln. Die Wärme, die vom Fell austrahlt, der Geruch von Futter, Mist und Erde liegt in der Luft. «Bevor ich hier herkam, habe ich nie ein Pferd gesehen, nur in Bilderbüchern», erzählt Marie.
Das Shetlandpony, das alle Liebesbezeugungen geduldig und kauend genießt, hat zudem noch spezielle Talente: «Es kann Türen aufmachen», erklärt Thomas, der seit vier Jahren hier arbeitet und auch für die Versorgung der Tiere zuständig ist. Im Moment ist die Stute zwar noch im Durchgang neben dem Eingang angebunden, weil es dort gerade Kraftfutter gibt (eingeweichte Graspellets mit Hafer). Doch besser, man schließt die Tür zur Sattelkammer auf dem Weg ins Büro gut, sonst steht Maja bald neben dem PC.
Aber erst mal kommt Egon dazwischen. Der Ziegenbock will nach dem Ausmisten auf dem Nebengelände, der Hengstkoppel, ebenso wie seine beiden Gefährtinnen nicht in den Stall zurück und verbreitet mit seiner Bereitschaft zu Stößen mit seinen gebogenen Hörnern Angst bei einigen Kindern. Thomas wird gerufen, er bleibt gelassen. Egon respektiert ihn, auch wenn er sich mit gesenktem Kopf der Besucherin nähert. «Der will gestreichelt werden, zwischen den Hörnern», rät Thomas. Und wirklich, es klappt, Egon zieht sich vorerst zurück. Ariane aus dem Büro kommt zu Hilfe, und mittels eines großen belaubten Astes als Leckerbissen gelingt es gemeinsam, Egon und seinen Anhang in den sauberen Stall zu den zwei Hängebauchschweinen zurückzulotsen.
Damen mit Geschichte
Seit Ilse Spreen 1973 für ihre tier- und pferdeverrückte Tochter Glinda das Pony Musse kaufte, wurde hier manches «aussortierte» Tier – so auch Egon, der vorher in einem Streichelzoo war – vor dem Schlachter gerettet.
Glinda Spreen ist inzwischen die 1. Vorsitzende der vor 25 Jahren als Verein gegründeten Kinderreitschule. Bis heute gehören alte Pferde, die nicht mehr geritten werden können, oder chronisch kranke Tiere selbstverständlich zur Gemeinschaft des Reitstalles. Mittelweile gibt es sogar den Verein für tierischen Ruhestand e.V., der sich um die alten Pferde der Reitschule kümmert – denn auch ein Pferd, das Jahrzehnte seinen Reiterinnen treue Dienste geleistet hat, wird alt und gebrechlich, braucht Schonung und spezielle Pflege für Hufe und Magen. Vor allem aber braucht es weiter menschliche Zuwendung, weiß Gloria Riénzer, die seit über zehn Jahren Madame Nou betreut, das inzwischen älteste Pony Deutschlands, das im Jahr 2013 sage und schreibe 50 Jahre alt wird! «Es ist einfach immer wieder schön, Madame Nou zuzusehen, sie strahlt Ruhe, fast eine Art Weisheit aus. Und sie merkt so viel, auch wenn es mir mal nicht so gut geht», lächelt Gloria Riénzer und krault die über die Jahre ergraute Madame Nou zärtlich. Bei jedem Wetter kommt die liebenswerte Rentnerin zur Reitschule und versorgt in einer Ecke des Geländes die Pferde-Seniorin und eine alte, zugelaufene Katze. Eine Pferdeflüsterin, die spürt, dass Pferde als Gefährten zum Menschen, seiner Entwicklung und Kultur gehören, ob über die Jahrtausende zum Tragen von Lasten, zur Überwindung von Entfernungen oder als Zugtiere. Und auch heute faszinieren sie Kinder, Jugendliche und Erwachsene – trotz unserer technisierten Welt.
Freiheit als Notwendigkeit
Auf dem Hauptgelände der Kinderreitschule mit dem Reitplatz in der Mitte: Pferde, Pferde, Pferde, wohin man schaut, in offenen Unterständen und verschiedenen Ecken, in allen Größen und Farben, von hoch aufragend, majestätisch und graziös bis mollig und klein – aber alle zusammen frei auf dem Gelände der Reitschule, in kleinen Gruppen oder allein stehend. Erstaunlich, wie locker die Pferde wirken und wie unbehelligt und frei sich die Menschen zwischen ihnen bewegen; nur am Ohrenspiel der Pferde ist zu sehen, wie aufmerksam sie sind (und man denkt traurig an Pferdeställe am heimischen Stadtrand, an eine lange Reihe von Türen, aus deren oberen Teil Pferdeköpfe herausragen).
Für Glinda Spreen ist diese Freiheit hier für die Pferde eine Notwendigkeit. «Wir waren Vorkämpfer für die Haltung der Pferde in einem offenen Stall im Herdenverband, eben artgerecht in einer Gruppe, und mit ständiger Verfügbarkeit von Raufutter wie Heu und Stroh und intensivem Kontakt zu Menschen. Die Pferde entwickeln so ihre eigene soziale Rangordnung, es entstehen sogar Freundschaften. Sie sind dadurch insgesamt einfach sehr ausge-glichen.» Hier gibt es auch keine Privatpferde wie in vielen Reitställen üblich, sondern alle 115 Pferde gehören dem Verein, sodass es beim Reiten keine Zwei-Klassen-Gesellschaft gibt von Privatpferdebesitzern und Schulpferdereitern.
Acht Kinder im Grundschulalter reiten auf Ponys in der eingezäunten Mitte. Kathy, eine blonde, langhaarige Studentin, gibt Reitunterricht, ein behindertes Mädchen ist in die kleine Gruppe integriert. Im Rahmen von Unterrichtsprojekten besuchen zudem behinderte Kinder der Biesalski-Förderschule, der Albert Schweitzer-Förderschule, der Parzival-Förderschule und der Johann-August-Zeune-Schule für Blinde regelmäßig die Kinderreitschule, und es besteht eine Kooperation mit dem Sportclub Lebenshilfe. «Unsere Wochenendkurse sind aber immer gemischt, und auch sonst läuft die Integration hier ganz automatisch ab, zumal wir kein spezifisches therapeutisches Reiten machen. Alle Kinder lernen hier nicht nur reiten, sondern ebenso die Pferde zu pflegen; sie entwickeln eine Beziehung zu den Tieren», erklärt Glinda Spreen. Auf dem Schulhof der Cecilien Grundschule in Berlin-Wilmersdorf wurde sogar eine kleine Koppel samt Unterstand und Futterkammer gebaut, und jeden Dienstag bis Donnerstag ziehen seit einigen Jahren zwei Ponys dorthin um. «Als die Pferde das erste Mal dahin kamen, meinte ein Junge der vierten Klasse: ‹Guck mal, Lamas.› Und manche Kinder wundern sich, dass Pferde keine Wurstbrote essen.»
Die Sehnsucht in uns
Zu Pferden blickt man auf, sucht ihren Blick. Sie strahlen kraft ihrer Natur Respekt aus, und können eine Sehnsucht in uns ansprechen, die in unserem Leben, fern von der Ursprünglichkeit der Natur, oft verschüttet ist. Ja, der regelmäßige Kontakt mit ihnen hat positiven Einfluss auf Kinder und Jugendliche, wie Glinda Spreen immer wieder erlebt hat (und es Lehrer bestätigen).
Einige Mädchen verrichten derweil auf dem Hauptplatz, der Stutenkoppel, Arbeiten rund um die Pferde, striegeln das Fell und säubern die Hufe, holen Futter, dazwischen stehen Mütter. Jakob, der Esel, deutet dezent an, dass er auch beachtet werden will, Spatzen picken emsig in frischen Pferdeäpfeln.
Ein Holunderbusch wird gerade von Maries und Theodorus’ Vater gestutzt, denn ehrenamtliche Arbeit aller, auch der Eltern, ist erwünscht und notwendig, um überhaupt den alltäglichen Betrieb mit Pferden, Reitstunden und allem, was dazu gehört, zu ermöglichen.
Karen Hauser ist seit sechs Jahren die 2. Vorsitzende des Kinderreitschulvereins und hat auch schon als Kind hier geritten. Sie kennt viele Pferde seit deren Geburt. «Die Pferde, das Reiten entspannt mich einfach. Aber Pferde können auch gut zuhören, nehmen meine Stimmung auf und erwidern auf ihre eigene Art etwas – was sehr tröstlich war, als ich als Jugendliche großen Liebeskummer hatte», sagt sie lachend. Jetzt ist ihre sechsjährige Tochter Maha-Marie mit dabei, die sich besonders über die herumwuselnden Hunde freut und einmal in der Woche mit der Kindertagesstätte Fliegenpilz zum Reiten kommt. Karen Hauser engagiert sich ehrenamtlich, «damit die Kinderreitschule Zehlendorf noch vielen Kindern zugute kommt und wir einiges für die Zukunft verbessern können». Bisher ist manches provisorisch wie der grüne Bauwagen, der zugleich Bistro, Theorieraum für die Reitschüler und Aufenthaltsraum im Winter ist. Auch eine überdachte offene Reithalle und neue sanitäre Anlagen wünscht sich der Reitverein, der nicht nur tagtäglich Reitunterricht anbietet, sondern auch immer wieder mit Preisen ausgezeichnet wurde (auf regio-nalen und überregionalen Turnieren, dann 2008 mit dem goldenen Stern des Sports für seine vorbildliche Kinder- und Jugendarbeit und die Integration von Behinderten und 2012 als erster Verein Deutschlands mit dem Gütesiegel «Vorbildlicher Verein» der Deutschen Reiterlichen Vereinigung). Trotz der idyllischen Lage ist der Kinderreitverein Teil der Vielfalt der Großstadt Berlin, zumal er an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen ist, was vielen Kindern, Jugendlichen und Gruppen aus entfernten Stadtteilen erst den regelmäßigen Besuch der Kinderreitschule ermöglicht.
Hürden überwinden
Brigitte Zoschke, Pferdewirtin, die auch seit über 30 Jahren dabei ist, und Thomas sind die beiden fest angestellten Arbeitskräfte des Vereins. Thomas absolvierte eine Ausbildung zum Tierpflegehelfer, war aber als Autist schüchtern und kontaktscheu. Heute führt er selbstständig die Besucherin herum, beantwortet alle Fragen und ist vor allem ein außerordentlich einfühlsamer Betreuer aller Tiere. «Thomas merkt die kleinste Verletzung eines Pferdes und meldet sie weiter. Immer ist er die Ruhe in Person, bei allen Aktionen der Tiere. Niemals wird er vergessen, eine Tür zuzumachen, wo es notwendig ist. Er ist absolut zuverlässig; als er wegen eines Streiks nicht mit dem Bus zum Reitstall kommen konnte, ist er früher losgelaufen und pünktlich zur Versorgung der Tiere morgens gegen sechs Uhr hier gewesen», erzählt Glinda Spreen. Die Liebe zu den Tieren, die alltägliche Arbeit mit ihnen und der offene und unkomplizierte Umgang der jungen und älteren Reitvereinsmitglieder haben sein Leben bereichert.
Auch aufgrund dieser Erfahrungen und der seit Jahren ganz selbstverständlichen praktizierten Integration von behinderten Kindern liegt es nahe, den Reitstall weiter in diese Richtung zu öffnen. So entstand gemeinsam mit den Lankwitzer Werkstätten für Behinderte der Plan, bis zu 24 Ausbildungsplätze zum Tierpflegehelfer für Menschen mit Beeinträchtigung auf dem Gelände und mit den Tieren des Zehlendorfer Reitvereins zu schaffen. Die dafür notwendigen Aus- und Umbauarbeiten würden allen Kindern und Jugendlichen zugute kommen. So wie die Pferde auf der Wiese hinter dem Königsweg, dem dritten Reitgelände der Reitschule, elegant über manche Hindernisse springen, wird die Kinderreitschule sicher noch diese Hürden nehmen. Denn Pferde sind WegbeREITER für Menschen!