Jean-Claude Lin

Eure Zeit aber ist allewege.

Nr 159 | März 2013

Auch wenn ich kein Gärtner bin, wie in Christian Morgensterns bemerkenswertem Gedicht, das ich im Kalendarium für diesen Monat März zitiere, habe ich hin und wieder das Bedürfnis, über Jesus Christus nachzudenken. Und wenn ich im Johannesevangelium lesend zum siebten Kapitel komme, wundere ich mich immer wieder neu über das Wort Jesu zu seinen Brüdern. Sie fordern ihn nämlich auf, zum Laubhüttenfest nach Jerusalem in Judäa zu gehen, obwohl sein Leben dort bedroht ist: «Da sprachen seine Brüder zu ihm: Mach dich auf von dannen und gehe nach Judäa, auf dass auch deine Jünger sehen die Werke, die du tust. Niemand tut etwas im Verborgenen und will doch frei offenbar sein. Tust du solches, so offenbare dich vor der Welt.»
Doch Jesus antwortet ihnen: «Meine Zeit ist noch nicht hier, eure Zeit aber ist allewege.»
Wie kann es sein, dass für die Menschen die Zeit immer gegeben ist zu handeln, für den Sohn Gottes aber gerade nicht? Goethe sprach einmal tief befriedigt aus, als er in Italien die vom griechischen Geist inspirierten Kunst­werke betrachtete: «Hier ist Notwendigkeit, hier ist Gott!» Im siebten Kapitel des Johannes­evangeliums ist offenbar diese Gottesnähe bei Jesus noch vorherrschend – noch ist er auf dem Weg zum Menschen, zum Menschwerden, noch herrscht Notwendigkeit: Er muss seine Zeit abwarten.
Die Menschen aber können jederzeit tun oder lassen. Das ist unsere Freiheit dem Kosmos der Zeit und Gott gegenüber. So beginne ich, den Weg des Christus zu verstehen, der die Freiheit erringt, um sie in das Reich der Notwendigkeit einzuführen. Und überall dort, wo wir Notwendiges erkennen, wie es Claudia Langer zum Beispiel zum Ausdruck bringt, und da heraus frei handeln, werden wir zu Weggefährten des Menschensohnes.

Allen unterwegs in dieser Zeit vor und über Ostern wünsche ich ein gutes Weiterkommen.
Ihr

Jean-Claude Lin

Ich seh’ ihn täglich schalten
von meiner Trambahnfahrt,
den irren Tolstoi-Alten
mit weißem Haar und Bart.


Er recht mit seinem Rechen
das dürre Laub zuhauf,
er kann den Spaten stechen,
als grüb’ ein Grab er auf.


Er kehrt auf den Beeten den Mist um,
wann Winterfröste drohn,
er denkt an Jesum Christum,
der Erde tiefen Sohn.


Er war dereinst ein Großer
und tat der Erde weh;
jetzt ist er Gärtner bloßer
im Kurhaus Halensee.


Er steht auf seinen Spaten
gelehnt und murmelt leis;
er kann der Welt entraten,
er weiß, was niemand weiß.


Er streut den Vögeln Futter,
kennt all die Pflänzlein zart.
Die große Erdenmutter
sein ein und alles ward.


Er kehrt auf den Beeten den Mist um,
wann Winterfröste drohn.
Er denkt an Jesum Christum,
der Mutter tiefen Sohn.



Der Gärtner von Christian Morgenstern