Ewald Koepke

Die gottgedachte Spur

Nr 159 | März 2013

Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehört ein kleiner silbern glänzender Löffel, dessen Stiel, auch auf der Rückseite, in die Darstellung eines Hündchens auslief. Die spitze Nase des Dackels, seine treuherzigen Augen, die anrührenden Schlappohren, der schlanke Leib, die Beinchen und Pfoten, im Profil dargestellt, zogen mich in den Bann. Mein träumerisches Gemüt durchzog, so meine ich, die früheste Kunde künstlerischer Gestaltungskraft. Zu Füßen des meisterlich dargestellten Tieres, so hatte ich erfahren, war mein Name eingraviert. «Ewald» stand da in langgestreckten, eng zusammengedrängten, kritzeligen Linien, die mich seltsam befremdeten – mehr noch, mich beklommen machten, Unbe­hagen erregten, ja, eine Art Angst in mir auslösten: Diese unheimlich-bildlosen Linien sollten meinen Namen bedeuten?!
Der liebe Löffel kam außer Betrieb; erst Jahrzehnte später sah ich ihn wieder. Er schien mir seither viel kleiner geworden. Die künstlerische Leistung hingegen hatte keineswegs an Wert ein­gebüßt. Die einstige Beklemmung aber stieg beim Anblick der kritzeligen Schrift wie aus nächtlichen Nebeln kaum verändert wieder auf, obwohl ich doch mittlerweile meinerseits selbst unzählige kritzelige Linien zu Papier gebracht hatte. Der Abc-Schütze allerdings, so wurde mir nun klar, hatte das Schreiben keineswegs gern erlernt, obwohl er seinen Klassenlehrer liebte, der die großen und kleinen Buchstaben bewundernswert an die Wandtafel geschrieben hatte, höchst eigentümliche Linien, die der folgsame Knabe mit einem immer wieder angespitzten Griffel auf seiner Schiefertafel nachzuzeichnen bestrebt war, was sogar etwas Spaß machte: waren doch die merkwürdigen Formkräfte der Buchstaben, im Gegensatz zu den stereotypen Buchstaben der Fibel, einigermaßen interessant. Weit mehr freilich fühlte sich der Junge zu den farbigen Bildern hingezogen, die dem Text beigegeben waren.
Die sogenannte «Deutsche Schreibschrift» wurde 1941 durch eine lateinische Schrift ersetzt, durch die «Deutsche Normalschrift». Daran erinnere ich mich deshalb so genau, weil ich, nun zehnjährig, auf dem Gymnasium mit der lateinischen Sprache bekannt ge­macht wurde. In ländlicher Umgebung aufwachsend und aus freien Stücken auf dem Hof des Bürgermeisters allerlei Arbeiten, wie Rübenputzen und Kühe füttern, begeistert verrichtend, berührte es mich anheimelnd, dass vormals die Römer den Bauer «agricola» genannt hatten. Latein überhaupt gefiel mir; schien es mir doch etwas Majestätisches und zugleich Nüchtern-Klares zu verkörpern. Das deutsche «ich liebe, du liebst, er liebt, wir lieben, ihr liebt, sie lieben» lautete in dieser altehrwürdigen Sprache lapidar «amo, amas, amat, amamus, amatis, amant».

Längst waren die frühkindlichen Erfahrungen mit den Rätseln der Schrift in tiefes Vergessen gehüllt, waren von den heranbrandenden Wogen der unermesslichen Wissensschätze des menschheitlichen Werdegangs überflutet. Der Jüngling in seiner individuellen Ent­wicklung rekapitulierte weitgehend unbewusst und doch auch zunehmend wacher die Kulturepochen der letzten fünftausend Jahre seit der epochalen Erfindung der Keilschrift in Mesopo­tamien und der altägyptischen Hieroglyphen, in der das polare Spannungs­feld von Abstraktion und Bild von Anbeginn zutage trat. Als dann zweitausend Jahre später, nach mehrfachen Vorstufen, den Griechen der Übergang von der Wort- und Silbenschrift zur reinen Laut-schrift gelang, die grandiose Erfindung des Alphabets, erwies sich diese intellektuelle Leistung als derart umwälzend und durchschlagend, dass sie sich von nun an in der ganzen Welt verbreiten sollte und ein zunehmendes Menschheits-Bewusstsein impulsierte.
Indem die Schrift im Mittelalter überwiegend Geistlichen anvertraut war, schien sie in eine spirituelle Aura eingehüllt. Die kunstreich gestalteten Initialen, die wunderbaren Anfangs- und Zier­buchstaben, kündeten von einer religi­ösen Vertiefung des Gemüts. Als dann aber um die Mitte des 15. Jahrhunderts die berühmte Gutenberg-Bibel erschien, traten gegossene bewegliche Lettern und mechanische Vorgänge ihren atemberaubenden Siegeszug an: Die «Schwarze Kunst», wie das Druck­handwerk genannt und von manchen gefürchtet wurde, verbannte den lebendigen beweglichen Geist in die Verließe vorgefertigter toter Buchstaben. Die Magie abstrakter Zeichen, zuletzt auch von elektromagnetischen Prozessen ge­tragen, beherrscht nunmehr das erdumgreifende Geschehen. Das Abstrakte wieder ins Lebendige zu verwandeln, auch dafür kann Kunst, schreibende Kunst, ein Weg sein.
Vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund erscheint meine frühkindliche Beklommenheit, diese in unterbewussten Tiefenschichten der Seele aufdämmernde Ahnung eines Verhängnisses in einem seltsamen Licht. Mehr noch, meine heutige Beklommenheit erweist sich als eine unheimliche Steigerung frühester Gefühle.
Andererseits hat mein Bild-Erleben – den kunstvollen Dackel der Kindheit erinnernd – eine unschätzbare Vertiefung erfahren, zumal seit dem jahrzehntelang verfolgten anthroposophisch orientierten Schulungsweg, auf dem auch Goethes begnadete Bilder-Schau bedeutsamer erfahrbar wird. In Die Metamorphose der Pflanzen hat der 49-jährige Goethe das geheime Gesetz, das heilige Rätsel des im steten Werden sich offenbarenden Lebens betrachtet und der Geliebten die Wundergebilde der Gestaltung und Umgestaltung, das Wirken der «göttlichen Hand» veranschaulicht. Und als 1829 am Ende von Wilhelm Meisters Wanderjahre (in der Ausgabe letzter Hand) jene Terzinen erschienen, in denen der Dichter sich als ein Adept bezeichnet, dem «die Schrift geschrieben» war, die nicht jedem ihren heiligen Sinn offenbarte, da hielt er, anders als Hamlet, einen Schädel in der Hand, den er als den seines Freundes Friedrich Schiller ansah, und er schaute, wie dem Tode ein Lebensquell zu entspringen schien. Bewegten Herzens fährt Goethe fort:

Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte!
Die gottgedachte Spur, die sich erhalten!
Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte,
Das flutend strömt gesteigerte Gestalten.