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Lynne Jonell

Emmy und die verschwundenen Mädchen

Nr 159 | März 2013

gelesen von Simone Lambert

Ein Biss – und man versteht die Rattensprache, der zweite Biss lässt einen auf Nagergröße schrumpfen, aber der dritte Biss von Raston Ratz aus der Gattung der Schenectady-Schrumpfratten verwandelt den Angeknabberten selbst in eine Ratte. Wieder ins Menschendasein befreien kann nur der Kuss seiner Schwester Sissy. Diese magischen Gesetze gelten auch im zweiten Roman über die ungewöhnlichen Abenteuer der Emmy Addison.
Es sind Sommerferien. Während die elfjährige Emmy sich wünscht, endlich Freundinnen zu finden und harmlosen Vergnügungen nachzugehen, tritt Miss Barmy wieder auf den Plan. Ihre ehe­malige Erzieherin hatte mit magischen Rezepturen dafür gesorgt, dass Emmy in der neuen Schule wie unsichtbar war. Emmy konnte die Ordnung mit Hilfe von Joe, einem Mitschüler, und Raston Ratz wieder herstellen. Jane Barmy wurde in eine Ratte verwandelt, ihr Manipulationstalent ist ihr aber geblieben. Als sie einen Schönheits­wettbewerb in Nager City organisiert, verwandelt sich ihr unter­irdischer Ruf unter den Artgenossen in Bewunderung. Selbst das Streifenhörnchen Mrs Bunjee, sonst nüchtern und bodenständig, nimmt sie vor Emmys Warnungen in Schutz. Was sie nicht weiß: die Party soll einen Juwelendiebstahl verschleiern! Für den missbraucht Miss Barmy auch ihre einstigen Schützlinge, fünf zu Däumelinchen geschrumpfte Mädchen, die offiziell vermisst werden. Die püppchengroßen Kinder werden von der Barmy-Mutter als Spielzeug benutzt (ein sprechendes Bild dafür, wie Mädchen kleingemacht werden). «Und vergesst nicht, euch dämlich zu benehmen», rät Ana, die Älteste, den Kleineren, als sie wieder mal zum Zwecke des Amüsements der ekligen alten, infantilen Frau aus ihrem Dach­boden­versteck geholt werden.
Emmy kommt den Mädchen auf die Spur und will sie befreien. Doch sie muss noch einen anderen Konflikt meistern. Ihre Freund­schaft zu den Ratten wird auf die Probe gestellt, weil sie nicht verhinderte, dass ihre Mitschülerinnen Sissy quälten und verletzten. Das nehmen die Nager ihr übel …
Miss Barmys Perfidie ist handlungstreibend und kitzelt die Lust am Bösen, doch wirklich Angst einflößen kann sie als Ratte nicht mehr. Die Heldin bewegt weit mehr die Frage, wie ein Mädchen glücklich wird: in Höflichkeit, Anpassung und Zurückhaltung, wie es Jane Barmys Erziehungszielen entspricht, eben «dämlich», oder wenn es mitfühlend, aktiv und mutig ist, wozu die Nager Emmy immer wieder provozieren.
Der Auftritt von Nagetieren im Kinderroman hat klassische Vor­bilder. Lewis Carrolls Alice begegnet im Wunderland absurd vermenschlichten Tieren – eine Gegenwelt, in der sie nicht erwachsen werden muss; ähnliches gilt für Marie in E. T. A. Hoffmanns Nussknacker und Mausekönig. Aber Emmy will nicht fliehen, im Gegenteil – sie will segeln, Pool Partys feiern und ihre Eltern zuhause wissen. Für Emmy spielen die Nager eine andere Rolle: Sie sind die Freunde, derer man sich schämt. Die man im Stich lässt und es später bereut. Lynne Jonell zeigt im zweiten Band ihre menschlichen und tierischen Protagonisten mit Schwächen und Fehlern behaftet. Sie sind peinlich und sie nerven. Sie rücken näher. Emmy meistert hier einen Gewissenskonflikt und eine Krise im Selbstvertrauen. Wenn sie schließlich als Ratte zur Schönheits­königin gewählt wird, spiegelt dies den Sieg über ihre Zweifel am Ende eines turbulenten phantastischen Romans mit vielen Ver­wandlungen, witzigen Einfällen und drolligen Helden.

Die Heldin dieses Romans bewegt die Frage, wie ein Mädchen glücklich wird: höflich und angepasst oder mitfühlend und mutig.