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Friedrich Rittelmeyer

Das Vaterunser

Nr 159 | März 2013

Nach innen und außen

Durch das Johannesevangelium hindurch kann man Christus selbst in seinem inneren Leben erschauen. Ein immerwährendes inneres Sprechen mit dem Vater ist der Hintergrund seines gesamten äußeren Lebens.

Die Menschen vergangener Jahrhunderte lebten mehr nach innen, aber versäumten das Außen. Die Menschen unserer Zeit leben nach außen, aber versäumen das Innen. Viel Geisteskraft gehört dazu, zu gleicher Zeit nach außen und nach innen zu leben. Weit mehr Geisteskraft, als der Normalmensch heute schon besitzt. Das ist der Mensch der Zukunft. Christus ist uns hier vorangegangen.
Dies Doppelleben, das der Mensch zu führen berufen ist, weil er eben ein Leib-Geist-Wesen ist, steht im Christus des Johannes­evangeliums in aller Helligkeit vor uns. Was auch immer im äußeren Leben geschieht: Stets ist ein inneres Geschehen vorangegangen. Bedeutungsvollen Aufschluss gibt jedes Wort, das Christus im Johannesevangelium davon erzählt. Zwei Äußerungen stehen sich gegenüber. Ich sage nichts, als was der Vater wirkt. Ich wirke nichts, als was der Vater sagt. Sprechen und Wirken gehen ineinander über. Seine Taten sind Worte. Seine Worte sind Taten.
Drei Gebete Christi hat das Johannesevangelium ausführlich auf­bewahrt. Das erste ist das Gebet am Grab des Lazarus. «Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast! Doch ich weiß, dass du mich allezeit erhörst. Aber um des Volkes willen, das umher steht, sage ich es, dass sie glauben, du habest mich gesandt» (Joh. 11, 41 – 42).
Wir er­leben das Ende eines langen Gespräches. Wir dürfen am ruhigen Bewusstsein Christi teilnehmen, dass er immer in der Erhörung steht. Wir tauchen in sein freudeleuchtendes Dankgefühl ein. Wir sehen ein freies, sicheres Wirken aus dem Inneren ins Äußere.
Das zweite Gebet ist das Gebet des innerlichen Ringens, wie das erste Gebet das Gebet des äußeren Wirkens ist. «Jetzt ist meine Seele betrübt. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde! Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verkläre deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn verklärt und will ihn abermal verklären» (Joh. 12, 27 und 28).
Wir sehen in die innerste Seele Christi hinein mit ihrer mensch­lichen Not und ihrer göttlichen Größe. Wir erleben die Seele aller seiner Gebete. Wir schauen auch durch ihn hindurch in die Seele des sich zu ihm neigenden Vaters.
Das dritte Gebet ist das «Hohepriesterliche Gebet» (Joh. 17). Nicht genug wundern können wir uns, dass dieses Hohe­priester­liche Gebet überhaupt da ist. Und nicht genug freuen können wir uns, dass es wenigstens einen Menschen gegeben hat auf der Erde, der es in seiner Seele widerspiegeln konnte.
Alles, was wir über die Zukunft des Menschen gesagt haben, sehen wir hier lebendig vor Augen. Christus steht vor uns, gleichzeitig in beiden Welten lebend. Frei geht er zwischen diesen Welten hin und her. Bald blickt er hin nach der göttlichen Welt, die ihn nun aufnehmen will, dann wieder blickt er nach der irdischen Welt, in der er nun seine Jünger zurücklässt. Auf der Schwelle zwischen zwei Welten lebt sein Ich. In die eine Welt zieht ihn sein Wesen. In die andere Welt zieht ihn sein Wollen.
Und sein Sprechen mit dem Vater ist wirklich vor unseren Augen ein Erstrahlen von Wesen zu Wesen. Erleben wir im ersten Teil des Gebetes mehr das Sprechen mit dem Vater, so erleben wir im zweiten Teil mehr das Wirken mit dem Vater. «Ich bitte» (17,9; 17,15; 17,20); «Ich will» (17,24). Auf göttlichen Höhen sprechen Vater und Sohn miteinander über die Zukunft des Menschengeschlechts. Frei fügt der Sohn seinen Willen dem göttlichen Vaterwillen ein. Größeres gibt es auf der Erde nicht zu sehen. Höheres gibt es nicht zu lernen. Sein im Vater. Sprechen mit dem Vater. Wirken mit dem Vater.
Siehe, der Mensch!