Thea Vogel im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Geburt kann ein Wunder sein

Nr 160 | April 2013

Erfindungen bereichern unseren Alltag, sie können aber auch Fähigkeiten verkümmern lassen: Wer nur per Internet unterwegs ist, dessen Muskulatur und Orientierungssinn verkümmern, und er stolpert zu Fuß verunsichert in einer fremden Stadt herum. Dabei lernt jeder Mensch seit Jahrtausenden Wichtiges wie von selbst: sich aufrichten, gehen, sprechen, malen, denken. Und Frauen können Kinder zur Welt bringen! Doch der Anteil der Kaiserschnitte liegt in Deutschland inzwischen bei über 30 % der Geburten (in Holland bei 15 %). Umfangreiche Diagnosetechniken des Gesundheitsmarktes stellen zudem schon während der Schwangerschaft viele Norm-Abweichungen der Embryos fest, was wiederum Frauen verunsichert und diffuse Ängste bestärkt. Ein natürlicher Geburtsverlauf erscheint nun als problematisch. Deshalb brauchen werdende Eltern heute in dieser neuen Lebensphase Orientierungshilfe. Dafür engagiert sich die Pädagogin Thea Vogel seit fast 40 Jahren im FamilienGesundheitszentrum Frankfurt, das derzeit für Hessen auch das Bundesprojekt «Wertebildung in der Familie» umsetzt. Sie ist Kursleiterin der GfG (Gesellschaft für Geburtsvorbereitung, Familienbildung und Frauengesundheit), die eine ganzheitliche Begleitung für die Zeit vor und nach der Geburt fördert – von Geburtsvorbereitungs- bis zu FABEL®-Kursen im ersten Lebensjahr.

Doris Kleinau-Metzler | Frau Vogel, wie sind Sie zu Ihrem Leben­s­thema rund um die Geburt gekommen?
Thea Vogel | Von der Ausbildung her bin ich Lehrerin, war ver­beamtet und habe an einer Grundschule unterrichtet – bis ich mich für mein erstes Kind beurlauben ließ und mich in einer Selbst­hilfegruppe von Schwangeren und Müttern in einem Frauen­zentrum engagierte. Damals, vor vierzig Jahren, war die Situation für Frauen und Mütter sehr eingeschränkt: Väter durften bei der Geburt nicht dabei sein, und in den Kliniken bestand keine Gesprächsbereitschaft, mit Schwangeren über eine möglichst natürliche Geburt zu sprechen und ihnen entgegenzukommen. Häufig wurde den Müttern außerdem direkt nach der Geburt das Baby weggenommen und erst später angezogen wiedergebracht, auch nachts lagen viele Kinder getrennt von den Müttern. Die Frauen wurden in Bezug auf die Geburt ihres Kindes völlig entmündigt. Aber wir wussten, dass es anders möglich ist, suchten Hebammen, die Hausgeburten begleiten konnten, und gaben die Informationen über Schwangerschaft und andere Arten von Geburt weiter. Vieles hat sich zum Glück seitdem verbessert.

DKM | Was hat sich seitdem für Schwangere geändert?
TV | Heute haben die Schwangeren zwar Wahlmöglichkeiten bei der Geburt – aber die Schwangerschaft selbst steht von vornherein auf dem Prüfstand mithilfe der Pränataldiagnostik. Es wird suggeriert: Wir können die Sicherheit erhöhen für ein «normales» Kind – aber Tatsache ist, dass wir kaum ein Kind im Bauch heilen oder be­handeln können und es keine absolute Sicherheit gibt (wie auch sonst im Leben). Frauen, bei deren Kindern beim Organscreening im 6. Schwangerschaftsmonat eine Abweichung bei ihrem Baby festgestellt wird, werden verängstigt, fragen sich ständig, ob das Kind gesund sei. Diese Angst beeeinflusst ihre gesamte weitere Schwanger­schaft und den Geburtsverlauf negativ. Nicht einmal medizinische Fachkräfte können genau beurteilen, welche Abweichung wirklich Folgen hat. Wäre es da für manche Eltern und damit auch für das Baby nicht besser, nicht so viel zu untersuchen? Wer erforscht die seelischen Folgen in dieser besonders sensiblen Lebensphase? Wer schaut sich Kontrollgruppen an? Niemand! «Wahlmöglichkeiten der Geburt» heißt, sich über Erfahrungen mit unterschiedlichen Kliniken auszutauschen, über Beleghebammen und Doulas als Begleiterinnen und über Geburtshäuser und be­gleitete Hausgeburt – je nach regionalen Möglichkeiten. Eine Hebamme, die nur Erfahrung mit Kranken­hausgeburten hat, wird die Alternativen anders darstellen als eine von uns in der GfG (Gesellschaft für Geburtsvorbereitung …) geschulte Kursleiterin. Frauen werden bei uns auch in ihrer Kompetenz für ihre Schwangerschaft und die Geburt bestärkt und darin, ihren Körper wahrzunehmen. Die Verunsicherung ist groß, besonders bei Frauen, die ihr erstes Kind erwarten.

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Fotos: © Fotos: Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

DKM | Einerseits ist Geburt etwas Normales. Andererseits scheint dieser Vorgang so unberechenbar und gewaltig, dass er heute, wo wir vieles planen und berechnen können, Ängste hervorrufen muss.
TV | Ja, wir scheinen vergessen zu haben, dass Gebären eine natür­liche Ressource von Frauen ist, so wie sich alles um uns auf natürliche Weise vermehrt und entwickelt. Wir haben inzwischen die Geburt zu einer medizinischen Sache gemacht, die außerdem auch noch dem Markt unterliegt, dem Gesundheitsmarkt. Natürlich möchte man gerne auf sichere Weise sein Kind bekommen – aber so ungewöhlich ist eine Geburt nicht, und so unsicher sind unsere Ver­hältnisse heute hier wirklich nicht, dass man davon ausgehen müsste, dass jedes Kind nur sicher in einem Krankenhaus zur Welt kommt. Ich habe mein Engagement in einer Zeit begonnen, als viele Frauen für sich entdeckten: Geburt ist keine Krankheit!

DKM | Wie läuft eine «normale Geburt» ab?
TV | Physiologisch ist es so: Wenn der Zeitpunkt der Geburt naht, schütten der kindliche und mütterliche Organismus geburtswirk­same Hormone aus, es entsteht ein Rhythmus aus Wehe und Pause, bei dem wichtig ist, dass die Frau gut mitatmet. Wir haben so etwas wie einen «Gebärinstinkt», der uns bei der richtigen Haltung helfen kann und dazu beiträgt, dass sich das Kind richtig eindrehen kann. Während der Wehen werden Hormone, sogenannte «Oxytocine», ausgeschüttet, um die Geburt voranzutreiben, das Baby vorzube­reiten und den Muttermund zu öffnen. Auch andere Hormone wie Endorphine (natürliche «High-Macher») sind während und nach der Geburt wirksam und tragen wesentlich dazu bei, dass sich die Bindung der Mutter zu ihrem Baby vertieft. Aber dieses natürliche umfassende System wird ausgehebelt, wenn normale Geburten auf künstliche Weise ablaufen. Mich erschreckt, wenn ich dann häufig von Frauen höre: «Geburt soll ja so ein tolles Ereignis sein, aber ich habe nichts gespürt, war nur froh, als alles vorbei war». Das ist schade, denn es kann so ein wichtiges und schönes Erlebnis sein, trotz aller Anstrengung.

DKM | Was ändert sich durch künstliche Eingriffe am Geburtsablauf?
TV | Wenn zur Einleitung oder Beschleunigung der Geburt eine Frau an den kontinuierlich wirkenden Wehentropf gehängt wird, werden die Wehen oft unerträglich und die Schmerzen kaum beherrschbar, der Muttermund öffnet sich lange Zeit nicht weiter. Dann wird der Schmerz mit dem PDA-Tropf bekämpft, was die Schmerzen, aber auch die Empfindungen der Frau dämpft. Zunächst ist es eine Erholung, bedeutet aber auch, dass die Frau nicht mehr so gut bei der Geburt «mitarbeiten» kann (sich bewegen, atmen, entspannen), zumal sie nun häufig liegen muss, auch weil sie an einen Wehenschreiber angeschlossen und technisch überwacht wird. Dadurch werden die Geburten oft überlang und komplizierter und ein Kaiserschnitt wahrscheinlicher.
Ich habe keine grundsätzlich medizinkritische Haltung, aber mir wäre wichtig, dass medizinische Hilfen auf die Risikofälle begrenzt wären (nur sehr wenige Babys oder Mütter werden durch die Geburt beeinträchtigt oder sterben). Auch die Einleitung der Geburt zu einem bestimmten Zeitpunkt verhindert die normalen Prozesse, die eine Geburt steuern. Entspannung, die wesentlich ist für den natürlichen Geburtsverlauf, ist unter technischer Überwachung schwerer möglich – stellen Sie sich vor, sie würden Sex unter solchen Beobachtungsbedingungen haben ... Die Frau und nicht die Technik sollte die Hauptperson bei der Geburt sein, um die sich alles andere gruppiert, ohne sie zu behindern.

DKM | Aber viele Frauen haben große Angst vor Schmerzen bei der Geburt, fürchten Komplikationen – und denken, der Kaiserschnitt sei eine einfache Lösung.
TV | Wir verheimlichen nicht, dass es Schmerzen bei der Geburt gibt, sondern wir sprechen es an. Wichtig ist das richtige Atmen, das wir auch unter Stressbedingungen üben, sodass die Frauen erleben, dass sie damit umgehen und es üben können. Was den Kaiserschnitt betrifft – auch wenn sich die Bedingungen heute sehr verbessert haben (mit Teilnarkose, das Baby kann gleich zur Mutter), und die Frauen sich danach meist gut erholen, ist es immer noch eine Operation, die bedeutet, dass die Haut am Bauch durchgetrennt wird, dann eine Fettschicht, das Sehnengewebe zwischen der Muskulatur, das Bauchfell und schließlich auch der Muskel der Gebärmutter – und alles wird anschließend wieder zusammengenäht. Das ist im Vergleich zu einer natürlichen Geburt ein ganz anderer Heilungsprozess, den die Frau gesundheitlich bewältigen muss, zudem noch mit einem Säugling, der umsorgt sein will.

DKM | Für manche Frauen ist entscheidend, dass das Leben nach der Geburt schnell so weiterläuft wie vorher – mit allen Anforderungen an sich selbst, aus dem Umkreis und dem Beruf.
TV | Ja, manchmal scheint vor lauter Geschäftigkeit das Gefühl für das Erlebnis eines Wunders kaum Platz zu haben – aber es braucht Zeit und Ruhe, um das Erlebnis der Geburt in sich aufzunehmen,
darüber mit dem Partner zu sprechen und sich aufeinander einzuschwingen. Es sind kleine Dinge wie ein Lächeln, ein Stirnrunzeln, wenn das Kind schläft, die im Herzen bleiben können, bei aller Arbeit, die auf einen zukommt. Dieses Filigrane, Engelhafte ist wunderschön – wenn wir es wahrnehmen. Ich merke an mir, wie mich kleine Kinder lebendiger, emotionaler machen, und ich dann mehr im Hier und Jetzt bin. Diese besonderen Augenblicke werden uns auch später immer wieder mit Kindern geschenkt, wenn wir es zulassen und uns Zeit für das nehmen, was uns wichtig ist.

DKM | Aber was ist wichtig? Was heißt es, «gute Eltern» zu sein?
TV | Das Thema «Wertebildung in Familien», ein Projekt des Bundesfamilienministeriums, zieht sich durch alle unsere Tätigkeiten. Erfahrung ist, dass wir Werte hauptsächlich vermitteln, indem wir Vorbilder sind, uns so verhalten, wie wir auch gern hätten, dass sich unsere Kinder verhalten – nicht indem wir davon erzählen und reglementieren. Wir bieten nach der Geburt für ein Jahr sogenannte Fabel®-Kurse an, «Familienzentrierte Baby-Eltern-Kurse», bei denen von den Bedürfnissen und Nöten der Eltern ausgegangen wird: Die Eltern treffen sich mit ihren Babys und der Kursleiterin, man singt, macht kleine Spiele, beobachtet. Oft müssen wir Erwachsenen lernen, nicht so viel zu intervenieren und uns selbst mit unseren Bewertungen und Erwartungen mehr zurückzunehmen. Einfach schauen, sich freuen. – Bei Angeboten in Stadtteilen mit sozialen Problemlagen haben wir gelernt, dass statt Kursen nach der Geburt auch offene, aber regelmäßige Treffen für die Mütter mit ihren Kindern sinnvoll sind, die der Isolation entgegenwirken und neue Chancen eröffnen. Alles baut aufeinander auf: Wenn ich am Anfang die Bedingungen für Schwangerschaft, Geburt und die erste Zeit des Elternseins möglichst gut gestalte, kann sich eine enge Bindung zwischen Eltern und Kind entwickeln. So können sich Ressourcen bilden, die Voraussetzung für Bildung und die weitere Entwicklung der Kindes sind.