Ralf Lilienthal

Lokis Garten

Nr 160 | April 2013

Gärten sind sichtbar und lebendig gewordene Gedanken und Ideen, was nirgendwo sonst deutlicher wird als in einem botanischen Garten. Schon die Namenschilder und Hinweistafeln lassen keinen Zweifel: «Mammutbaum», «Kamelie», «Natternkopf» und «Sisalagave». «Alpinum», «Hochmoor» und «Prärie», «Bauern»-, «Apotheker»- und «Bibelgarten» – was auch das gärtnerisch und botanisch ungeschulte Auge sieht, sind nicht «Blumen» in zufälliger Anordnung, sondern «Pflanzungen mit System». Das gilt für die Londoner Kew Gardens, den Jardin des Plantes in Paris und den Orto Botanico di Padova genauso wie für Frankfurts Palmengarten, Hannovers Berggarten und – unser Reportageziel – für «Lokis Garten» in Hamburg, der vollständig Loki-Schmidt-Garten. Botanischer Garten der Universität Hamburg heißt.

Garten mit Geschichte

Die Geschichte dieses Gartens reicht weit zurück und hat ge­wisser­maßen «hanseatische Anfänge». Denn mit den Kauffahrerschiffen kamen jahrhundertelang nicht nur Handelsgüter aus aller Welt in die Hafenmetropole. Sie brachten auch geheimnisvolle Mythen, handfestes Wissen und nicht zuletzt ausstellungswürdige Fund­stücke aus fernen, fremden Welten mit. Während die durch Johannes Flügge 1812 realisierte erste öffentliche «Pflanzen-Sammlung» nach nur einem Jahr von den Stiefeln der napoleo­nischen Truppen zertrampelt wurde, hatte Georg Christian Lehmann, Professor für Naturgeschichte am Akademischen Gymnasium, mit seiner Idee eines außerhalb der Stadtmauern gelegenen «Botanischen Gartens» dauerhaften Erfolg. Im Oktober 1821 wurde mit dem Bau einer Grünanlage am Dammtor begonnen, die dann bis 1979 auf zehn Hektar Freifläche und neun Schaugewächshäuser anwuchs. Ein Areal, das, in vielerlei Metamorphosen, über 150 Jahre lang der Alte Botanische Garten Hamburgs blieb.
Doch während sich die wachsende Stadt immer enger an ihn herandrängte, wuchs der Wunsch nach mehr Platz und Möglich­keiten. Nach langem Planungsanlauf und acht Jahren Bauzeit, war es dann so weit. Eingebunden in den Grüngürtel um den Jenisch-Park am Elb-Ufer und den Altonaer Volkspark, öffnete der neue, 24 Hektar große Botanische Garten in Klein Flottbek am 5. Juli 1979 seine (bis heute eintrittsfreie!) Pforte.

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Fotos: © Christian Kaiser (www.kaiser-photography.de)

Die vielen Gesichter eines Gartens

«Botanischer Garten» – was ist das eigentlich? Wer dieser scheinbar leicht zu beantwortenden Frage nachgeht, verlässt nach und nach die gebahnten Routen. Der Aufmerksamkeit eines vielseitig interessierten Zeitgenossen zeigt der Garten in Klein Flottbek auf seinen Haupt- und Nebenwegen jedenfalls ein vielgesichtiges Terrain. Da ist ein Park im herkömmlichen Sinne des Wortes. Große zentrale Freiflächen, Wiesen und Baumsolitäre, stehende und fließende Gewässer – zum Teil etwas unzeitgemäß in Beton «gegossen». Zu den Rändern hin verdichtet finden sich Pflan­zungen – Steine und Stauden, prachtvoll laute Farbklänge, dezentere Grün-in-Grün-Kompositionen. Japanisches und Chine­sisches. Ein Bauerngarten. Dünensand, Wüstensand. Pflanzen­lose Stein­geröll- und Splittflächen. Außerdem – wie soll man diese Land­schaftsminiaturen nennen? – «Wald-, Hoch­gebirgs- und Steppen-Zitate». Und immer wieder Systema­tisches: beetweise aufgereihte Gift- und Apotheker­pflanzen. Zusammengestellt und erklärt: Getreide-, Gemüse- und Kräuterarten, Faserpflanzen, Färberpflanzen … Hier wird man, wenn man es denn zulässt, an jeder Ecke informiert und belehrt, und sei es nur durch das Vokabular der deutschen und der wissenschaftlichen Pflanzen­namen. «Botanischer Garten» – das ist, wie Klein Flottbeks Wissenschaftlicher Leiter Dr. Carsten Schirarend zusammenfasst: «Ein Schaufenster zur Welt der Pflanzen!»
Tatsächlich kann man in diesem, über zwei Meter hoch eingezäunten Garten jahrelang sehr zufrieden spazierengehen, ohne mehr als den unmittelbaren Genuss einer gesunden, vielgestaltigen Landschaft zu erfahren. Doch wer anders und anderes sehen will, kann Hamburgs Botanischen Garten auch durch eine seiner Geheimtüren betreten!

Glücksspuren

«Botanische Gärten sind für mich seit Kinderzeiten Zaubergärten und werden es immer bleiben. Schon als Zehnjährige bin ich durch den alten Botanischen Garten Hamburg gewandert und habe bei jedem Besuch neue Pflanzen bestaunen können.» Auf Loki Schmidts Spuren einen Botanischen Garten zu betreten, ist ein Glücksfall. Was zum wenigsten daran liegt, dass sie einen lesenswerten Führer zu Deutschlands Botanischen Gärten ge­schrieben hat. Vielmehr verkörperte die 2010 mit einundneunzig Jahren verstorbene, gelernte Volksschullehrerin (und Kanzlergattin) eine seltene, äußerst liebenswerte Spezies. Allem Lebendigen wissbegierig verbunden, blieb sie nicht beim bloßen Naturgenuss und nicht einmal bei dessen wissenschaftlicher Vertiefung stehen. Sie war darüber hinaus wach genug, um Bedrohungen und Zer­störungen natürlicher Lebensräume zu erkennen – und sie war fantasievoll und tatkräftig genug, um sich dem erfolgreich ent­-gegenzustellen. (1)
Kein Wunder, dass Loki Schmidt den Botanischen Garten durch den «Dienstboteneingang» betrat, vertraut war mit den Professoren, Doktoren und den Gärtnern, dass sie Förderin war, nicht Gönnerin.
Bleiben wir noch kurz bei den Fachleuten – den Akademikern und den Praktikern. Auch sie kennen geheime, sehr persönliche Eingänge in das «Grüne Reich», sind wie durch «semipermeable», also halbdurchlässige Membranen dort eingesickert und haben Positionen besetzt, die nur auf sie zu warten schienen. «Spezialwissen» heißt dieser Türöffner. Schon Lehmann selbst, der Garten-Gründer, hatte sich der Gruppe der Palmfarne hingegeben und einige ihrer Vertreter im Linnéschen Pflanzen-System verankert. Noch heute, fast 200 Jahre später, legen einzelne überlebende «Typuspflanzen» in den Schaugewächshäusern des Parks «Planten un Blomen» Zeugnis
davon ab. (2)
Seither haben immer neue Botanikergenerationen die Sammlungen vertieft und erweitert und Hamburgs Botanischen Garten mit dem weltweit gespannten Netz der Pflanzenforschung verknüpft.
Und was für die Wissenschaftler gilt, findet sich auch bei den Gärtnern. «Als ich mich hierher be­worben habe, waren Sukkulenten meine Leidenschaft.» Doch Bernd Lohse, der gelernte Gärtner und Trockenflora-Spezialist, wurde ins Tropenhaus am Dammtor verpflanzt. «Zum Glück! Seitdem schlägt mein Herz für den Regenwald.» Beruflich und privat – denn, wie bei den meisten Kultivateurs-Kollegen, haben die Pflanzen in jedem Bezirk seiner Seele Wurzeln geschlagen. Als er den Reporter, selbst Gärtner von Haus aus, durch die nicht öffentlich zugängliche Bromelien- und Tillandsien-Sammlung in Klein Flottbek führt, sieht der vor lauter verwechselbaren Ananasgewächsen und herabhängenden, graugrünen Louisianamoosbärten den Dschungel nicht mehr. Und dass die pflegende Erhaltung dieses scheinbaren Durcheinanders auf den Pflanztischen immer auch ein stummer Kampf gegen den weltweiten Artenverlust ist, sieht der naive Besucher schon gar nicht. «Viele dieser Pflanzen gibt es am Naturstandort nicht mehr.» Einige davon hat Bernd Lohse vor Jahren selbst, zumeist in Venezuela, erklettert und gesammelt. Mitbringsel, die der Garten seinem eigenen privaten Engage­ment und Loki Schmidts Stiftung Internationaler Gärtneraustausch verdankt.(3)

«Frau Schmidt fand es wichtig, dass nicht nur die Wissenschaftler, sondern auch wir Gärtner die Pflanzen an ihren Naturstandorten kennenlernen können.» Manfred Woest, Orchideenspezialist und heute verantwortlich für sämtliche Unterglaskulturen des Bota­nischen Gartens, hat als einer der Ersten vom Gärtneraustausch profitiert. Er war in Jerusalem, half dort beim Aufbau des Botanischen Gartens, sammelte Pflanzen und Erfahrungen, die in Hamburg unter anderem dem Aufbau des Bibelpflanzen-Gartens zugute kamen. Während Woest und sein für das Freiland verantwortlicher Kollege Volker Köpke von Hamburgs Einbindung in das internationale Netz der Botanischen Gärten erzählen, wird deutlich, dass deren Zusammenarbeit häufig jenseits nationaler und politischer Partikularinteressen funktioniert und reiche Frucht in Forschung und Artenschutz trägt.
Und dass es ein weiteres, wenig beachtetes Tor in ihren Garten gibt, berichten die beiden Gärtner auch. Das wird benutzt von den sogenannten «Gartenpaten», zumeist aktiven Mitgliedern der Gesellschaft der Freunde des Botanischen Gartens Hamburg. Ihr organisatorisches, handfestes und pekuniäres Wirken im Dienst des Botanischen Gartens ist gerade in Zeiten knapper öffentlicher Ressourcen nicht hoch genug einzuschätzen, wie der wissenschaftliche Leiter des Gartens, Dr. Carsten Schirarend, nicht müde wird zu betonen. Sie betreuen nicht nur den Gartenshop im Fachwerkhaus des Bauerngartens, sie legen auch gärtnerisch selbst Hand an, jäten, oft Jahrzehnte lang, still und bescheiden «ihre» Beete, schneiden Rosen oder putzen mit flinker Hand die welken Blätter der Unterglaskulturen aus.
Allmählich wird dem Reporter klar, was der Botanische Garten auch ist – oder doch sein könnte: Ein kompliziertes Sozialgebilde, das innerhalb der gegenwärtigen, ökonomistisch bestimmten ge­sellschaftlichen Evolution eine Nische des «selbstlosen» Mitein­anders zu besetzen versucht. Was man mit den Worten eines leidenschaftlichen Hamburger Gärtners auch so formulieren kann: «Der Botanische Garten steht und fällt mit seinen verrückten Mitarbeitern!»

Die liebenswerte Wissenschaft

Ja – und er steht und fällt langfristig wohl auch mit seinen großen und kleinen Besuchern. «Das wichtigste Ziel meiner Arbeit? Begeisterung wecken. Damit die Kinder wiederkommen und vielleicht noch ihre Eltern mitbringen!» Das sagt Walter Krohn, seines Zeichens gymnasialer Biologielehrer und mit halber Stelle Leiter der «Grünen Schule» (4) am Botanischen Garten. Wenn Krohn mit leuchtenden Augen erzählt – von der Feuerschutzweste des Mammut­baums, dem patagonischen Monkey-Puzzle-Tree, der Teufelskralle, vom Blätterdrucken und Flechtenkartieren und von seinen jahreszeitlichen Unterrichtsgängen durch den Botanischen Garten, weiß man Hamburgs Schüler in guten Händen und die Zukunft der «Scientia Amabilis», der «liebenswerten Wissenschaft», wie die Botanik einst genannt wurde, auf einem neuen, viel­versprechenden Weg.
Während Lehrer und Reporter am späten Nachmittag durch den Garten schlendern, die Augen in einem Moment scharfgestellt auf das zarte Himmelblau eines tibetischen Scheinmohns, bald darauf umherschweifend im üppig wuchernden Sumpfzypressental, und noch immer der Frage nach dem Wesen des Botanischen Gartens auf der Spur sind, wird zunehmend deutlich: Lokis Garten ist eine Melange aus vielen, zum Teil sehr persönlichen «Gärten» – er ist Projektionsfläche und Tat-Ort für alle, die sich selbst immer neu dazu entschließen.

(1) Ihre bis heute bestehenden Initiativen und Stiftungen sprechen für sie und für sich – insbesondere die «Stiftung Natur und Pflanzen», die heute den Namen «Loki Schmidt Stiftung» trägt: www.stiftung-naturschutz-hh.de

(2) Die Parkanlage «Planten un Blomen» umfasst den Alten Botanischen Garten am Dammtor. Die dortigen, beeindruckenden Schaugewächshäuser sind nach wie vor ein wichtiger Teil auch des Neuen Botanischen Gartens in Klein Flottbek.

(3) Mehr dazu finden Sie unter: www.gaertneraustausch.de

(4) Fast 2000 Schüler jährlich nehmen vor Ort die Unterrichtsmöglichkeiten der «Grünen Schule» in Anspruch. Außerdem stellt sie den Lehrern in Selbstabholung umfangreiches Pflanzen- und Unterrichtsmaterial zur Verfügung.