Maria A. Kafitz

Vokale mit Genuss

Nr 161 | Mai 2013

Ein neues Land erwartete mich – unbekannt und entdeckungsbereit. Wenngleich die weite Ferne ja stets verlockend ist und gesehen, gerochen, genossen werden will, lagen diesmal keine abertausend Kilometer und Stunden zwischen Zuhause und Fremde – und trotzdem eröffnete sich eine mehrfach andere Welt.
Wie aber nähert man sich einer fremden Gegend? Mit offenen Augen und neugierigem, noch offnerem Herzen – das ist klar. Was aber begegnet einem, wenn das Vertraute, das Sicher­geglaubte zwar vorhanden, aber nicht mehr verstehbar ist?
Überall waren sie noch sichtbar, die 30 (29 für die ß-verzichtenden Schweizer Freunde) vertrauten, liebgewonnenen Zeichen, die ich auch beim Schreiben dieser Zeilen nutze. Überall waren sie vorhanden – und dennoch landete ich schon am Flughafen in einem Meer nie gesehener Kombinationen: Lentokenttä. Matkalaukkujen. Vessa. Ulostulo
Dass hinter diesen Vokal- und Konsonantenreihen solch schlichte Begriffe wie Flughafen, Gepäck, Toilette und Ausgang verborgen liegen, ließ sich zwar an den dazugehörigen Symbolen und den immer dazugereichten englischen Varianten ableiten und lösten das staunende Rätselraten rasch auf, die empfundene Freude an diesen «Fabelworten» aber traf mitten ins jubelnde Sprachherz und blieb die ganzen Reisetage über – und bleibt.
Nie zuvor habe ich freiwillig und lustvoll derart viele Schilder und Werbeplakate gelesen (nun ja, es versucht) und mich daran berauscht! Wunderbare Vokalvervielfachungen und das Zusatz­glück, dass mir nichts verkauft und aufgeschwatzt werden konnte. Denn ich verstand ja nichts. Ich erfreute mich nur an den Zeichen­folgen und ihrem erahnten Klang.
Ja, die Freude ist selbst beim Erinnern an die «Finnentage» gegen­wärtig:
Das vokal- und umlaut-, seen- und mücken-, insel- und wald-, architektur- und designreiche Land zwischen Ostsee und Polarkreis, das in Rovaniemi auch noch den ersten Wohnsitz des Weihnachtsmanns für sich beansprucht und mir in Kindertagen die liebenswerten Mumins von Tove Jansson schenkte, war das auserkorene Ziel.

In der Ruhe liegt nicht nur die Kraft

«Finnen sind anders», so überschrieb die Reporterin Ines Trams einen Beitrag, den sie fürs ZDF machte. Sie seien die «Exzentriker Europas … unnötiger Smalltalk werde vermieden, Fremde würden nicht gegrüßt und es gelte als höflich, jemanden in Ruhe zu lassen.» Dass sich Exzentrik derart äußert, scheint in der Tat ein exzentrischer Wesenzug. Und die Aussage stimmt und stimmt in gleichem Maße nicht. Sie stimmt für die Ruhe und Einsamkeit auf dem Land und findet ihre Gegenbewegung in einer trubeligen, Trends kreierenden Stadt wie Helsinki oder dem lebenslustigen Turku. Wer in Turku einmal den «Tanz der Alten» am Ufer des Aurajoki miterlebt hat, die sich dort regelmäßig zum ausgelassenen «Schwof bei Livemusik» treffen, der widerspricht besonders der Aussage, «es gelte als höflich, jemanden in Ruhe zu lassen», heftig und mit wiederkehrendem Drehschwindel aus der Erinnerung.
Die tanz- und kaffeenärrische (der mehrfache Gewinner der finnischen Barista-Meisterschaften kommt von hier und Kaffeeliebenden sei nicht nur aus diesem Grund das Café Art am Flussufer nach ausgiebigen Selbstversuchen empfohlen) ehemalige Hauptstadt Turku ist zugleich auch das Eingangstor in die stille, die andere Welt Finnlands. Hier beginnt die Schärenringstraße, die durch und entlang, über und vorbei an ungezählten Inseln führt. Ein Traum! Ein Traum aus mehr als zwanzigtausend und zwei Inseln.
Nicht nur optisch ist dieses ausgedehnte Archipel eine wahre Wonne: An jeder Ecke wartet eine andere Inselschönheit mit buntem Holzhaus, Bootssteg und Bäumen oder nur mit Boots­-steg, aber dafür stets mit einem kleinen Nadelbaumwäldchen aufs immer­hungrige Idyllenauge. Für Landratten bietet diese Ringstraße zudem eine neue Erkenntnis: Straßen können auch auf Booten sein! Denn die Inselvielfalt ist zwar zu weiten Teilen mit Brücken untereinander verbunden, zum Teil aber nur via kostenloser Fähre erreichbar. Und diese Fähren, «Lassi» genannt und nicht mit dem gleichnamigen indischstämmigen Joghurtgetränk zu verwechseln, sind in der Tat schwimmende Straßen mit Fahrbahnmarkierungen und Verkehrsregeln. Wer glaubt, mit Letzteren etwas lässig umgehen zu können, erfährt akustisch rasch und überdeutlich, dass sich Finnisch durchaus auch wie nordisch-germanisches Götterzürnen anhören kann, wenn es einem vom Fährmann entgegengeschleudert wird.

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Fotos: © Sebastian Hoch

Hüttenzauber im Nichts

Wie (meist) im Leben ohnehin, so gilt auch hier: Wer die vorgegebene Bahn verlässt, findet Ungeahntes … Wer die vorgegebene Schärenringstraßenbahn verlässt und irgendwo abbiegt und einfach weiterfährt (auf einer Insel zudem ein überschaubares, ein endliches Abenteuer), dem kann im ländlichen Finnland nicht nur ein imposanter Elch begegnen, sondern auch eine kleine liebliche Besonderheit wie etwa «Seijas Shop». Mitten im Nichts, mitten im Nirgendwo einer Fünf-Haus-Siedlung sehr fern anderer Menschen stand dieses Hüttchen und überraschte gleich mehrfach: Maximal Köstliches wurde zu minimalem Preis angeboten (ein Gaumenkitzel sind ohnehin die auch sonst fast überall erhältlichen «Korvapuusti»). Die Hütte war gerade so groß, dass zwei «normale Erwachsene» darin stehen konnten, und verbarg im Inneren Gestricktes (Socken, Mützen und Handschuhe), Gebackenes (die genannten Hefe-Zimt-Schnecken und zwei weitere Gebäckarten) und Gebrautes: frischen Kaffee (selbst Zucker und Milch standen bereit)! Nie hätte ich zu hoffen gewagt, an diesem Tag nach so viel Wasser und Inseln und Wald und Einsamkeit damit verwöhnt zu werden. Dass Seija in Schürze und Gummistiefeln nach einem nur erahnbaren «Hei» wortlos (!) die Kaffeekanne auffüllte und sogleich wieder in Begleitung ihrer properen rotgetigerten Katze verschwand, passte famos zu diesem «Imbiss im Verlassenen».

Aus Trotz wird ein Trend

Dass die Finnen nicht nur mit ihrer Sprache zu verzaubern vermögen und kulinarisch an ungeahnter Stelle überraschen, wurde – zurück aus der Einsamkeit und mitten im städtischen Treiben – in Helsinki genossene Wirklichkeit. Doch bevor vom «Gaumenkitzel mit Sozialnachtisch» berichtet wird, sei wenigstens kurz Helsinkis Schönheit besungen: Städte, die an Gewässer grenzen, das fließende Element zum Teil ihres Seins machen, verströmen meist einen anderen Duft. Wirken beweglich. Haben erweiterte Grenzen. Manchmal springt dieses Fließende, Bewegliche, Grenzenlose auf die Architektur über – und Helsinki ist ein Paradeprunkstück dafür: Die Stadtteile Katajanokka, Kruununhaka oder Eira etwa offenbaren Jugendstilbauten, nein: Straßenzüge und ganze Viertel, die in ihrer Erscheinung zwar die Zeit und ihre «Regeln» erkennen lassen, sich sogleich aber über alles hinwegsetzen. Es gibt die an Ritterburgen erinnernden Blöcke – Turm mit Extratürmchen hier, Bögen mit Zusatzwindungen da. Es gibt die verspielten Hausreihen – Goldornamente mit Mäander­verlauf hier, Froschformationen über der gesamten Fassade da. Und es gibt einzelne Straßenzüge, da könnte man fast glauben, eine Horde Anthroposophen hätte sich ausgetobt – vom rechten Winkel befreite Fenster- und Türrahmen hier, Säulen und organisch gewundene Balkone da. Das Gesehene lässt sich kaum beschreiben, es will gesehen werden!
Doch zurück zum Gaumenkitzel, hin zum «Restaurant Day», der zugleich erlebbar machte, dass Finnen ihre Exzentrik nicht nur durch Zurückhaltung zelebrieren. Was heute von Helsinki aus in viele andere Städte über Europas Grenzen hinaus «übergekocht» ist, begann im Mai 2011 als Trotzreaktion auf immer neue Vorschriften von Behörden und Ämtern. Antti Tuomola arbeitete damals bei einem befreundeten Wirt, der aus seiner Bar ein Restaurant machen wollte. «Er hat es aber nicht geschafft, die Behörden trieben ihn zur Verzweiflung: neue Wasseranschlüsse, Dunstabzüge, Behindertentoiletten … Aber wer steckt so viel Geld in einen Umbau, wenn er noch nicht einmal weiß, ob die Gäste sein Essen bestellen? Er hätte es gern ausprobiert – und sei es nur für einen Tag.» Der Wirt gab auf und die Bar blieb eine Bar. Antti aber wollte es wissen – und sei es nur für einen Tag. Gemeinsam mit Freunden nutzte er die Lust der Leute an gutem Essen und die mannigfaltigen Möglichkeiten der digitalen Welt und lud via facebook und eigens eingerichteter Website zum «Restaurant Day», zu einem Tag, an dem jede und jeder sein privates Restaurant eröffnen sollte. Ob das «Restaurant» ein Fahrrad (Finnen lieben ihr «polkupyörä») oder ein vom Balkon abge­seilter Korb war, ob es seinen Platz am Grill im Park oder im heimischen Wohnzimmer fand, wurde der Fantasie der «Gastro­nomen auf Zeit» überlassen. Wer etwas zu essen und zu trinken anbieten wollte, sollte es an diesem Tag einfach tun. «Wir hofften damals, dass außer uns zumindest zwei, drei andere aufmachen würden. Es waren dann mehr als vierzig.»

Das war damals, im Mai 2011 – heute lächeln die trotzigen Gründer über den ironischen Lauf der Geschichte, denn heute wirbt die Stadt mit diesem viermal im Jahr stattfindenden Genusstag, der nach anfänglichem Gezeter zudem mit Brief und Siegel behördlich genehmigt ist. Dass der «Restaurant Day» keine subversive Veranstaltung mehr ist und die meisten Einnahmen mittlerweile unterschiedlichen karitativen Zwecken gespendet werden, macht das Vergnügen nicht geringer. Und dieser Tag zeigt, dass Finnen überaus kontaktfreudig, sehr gesellig und sogar redselig sein können: Studenten preisen lautstark ihre Grillkünste an, Mädchen offerieren zum melancholischen Lied auf der Gitarre süßes Gebäck, herausgeputzte Damen kredenzen mit einem Lächeln ihre Lieblingssuppenkreationen – in der ganzen Stadt stehen Menschen plaudernd in Gruppen beieinander, werden Läden zu Lokalen. Aus dem wolkenverhangenen Himmel über Helsinki tropft an diesem Tag förmlich der Geruch von Ge­bratenem und Gebackenem und fließt als Ausgelassenheit durch die Straßen und sammelt sich an Plätzen und Haus­eingängen.
«Hyvää ruokahalua!», ruft ein finnischer «Restaurantbesitzer» einem Gast zu. Staunend und freudig vernehme ich die Laute für «guten Appetit». Im Finnischen heißt Mensch «Ihminen» und leitet sich vom Verb «Ihmetellä» ab, was «wundern» und «staunen» bedeutet. Ja, wir sollten mehr staunen – auch über die großen und kleinen Wunder Finnlands …