Sebastian Hoch

Musik braucht Zeit

Nr 162 | Juni 2013

Zurück zum ursprünglichen Zeitmaß, zurück in die Ordnung des Taktes. Das auffordernde a tempo als musikalische Anweisung (trefflich nicht nur für den Namen dieses Magazins) trägt das Innige, Widersprüchliche und Grundsätzliche des Verhältnisses von Zeit und Musik in sich. Hier zeigt sich beispielhaft die Trias Ver­gangenheit, Gegenwart und Zukunft, denn es soll ein im Moment bereits Vergangenes beschlossen werden und ein Neues, doch Erinnertes beginnen. Nach Ordnung und Rückkehr, nach Auf­bruch und Repetition wird verlangt. Vergangenes wird mit Kommendem verbunden – Zeit wird als grundlegendes Struktur­prinzip manifestiert. Ohne tempus kein
a tempo. Ohne Zeit keine Musik!
Der Zeit als elementarer Voraussetzung für Musik begegnet man schon in deren kleinsten physikalischen Grundeinheiten: Schall und Klang. Nur als in der Zeit verlaufendes Schwingen entsteht Hörbares, nur als in der Zeit geordnete Bewegung entsteht eine Frequenz. Je gleicher die durch die Bewegung gegliederten Zeiteinheiten, desto genauer empfinden wir Schwingungen als Klang, als musikalischen Ton. Nur im Verlauf der Zeit wird die sich bewegende Welt um uns hörbar und kann «Musik als Darstellung von Ordnungsverhältnissen in der Zeit» entstehen, wie der Komponist Karlheinz Stockhausen betonte.
Wie das Hörbare keine Gegenwart kennt und nur im zeitlichen Verlauf entsteht, bedarf auch die Musik als Hörkunst einer gestalteten Gliederung der Zeit. Ein einzelner Ton, ein singuläres Klangereignis für sich genommen scheitert daran, einen musikalischen Gedanken zu artikulieren, es bedarf der Zeit als ordnender Brücke zu einem Kontext.
Erst im Dialog mit dem bereits ver­klungenen und nur noch in Erinnerung gehörten Davor oder dem noch zu erklingenden, vorausahnenden Danach entsteht Verbindung und Geschichte, wird Klang zur gestaltbaren Folge und dadurch schließlich zu Musik.
Sei es ein einfaches einstimmiges Lied oder der vielschichtige Schlusssatz einer Sinfonie, stets ist es das kunstvolle Initiieren von Ahnung, das Erfüllen oder Enttäuschen von Erwartung, das Abbilden von Bewegung oder Stillstand, welches jedes Stück Musik vom Einschwingvorgang des ersten Tones bis über das Verklingen des Finalklangs hinaus durchzieht. Die Gestaltung aller akustischen Ereignisse und ihrer verwobenen Beziehungen zueinander in der Zeit werden zur ureigenen Aufgabe des Komponisten, das im Zeitverlauf entstehende Bewerten und Verbinden der wahrgenommenen klanglichen Reize zur edlen Pflicht des Hörers.

Es ist die notwendige Brücke Zeit, welche dem Klangkünstler die Möglichkeit zum schöpferischen Ordnen und bildenden Gestalten darreicht. Es ist das unabdingbare Zusammengehören von Ver­gangenheit, Gegenwart und Zukunft, welches den Komponisten kulturelle Ästhetik aus Natur, Musik aus Akustik formen lässt. Nur das Erfahrbarmachen und schöpferische Darstellen von Verlaufs­ordnungen des Zeitlichen erlaubt Bedeutung und Empfindung, Ausdruck und Sprache.
Der so bedingte Wille singulärer Klangereignisse nach Zusammen­hang, nach sinn- und wertstiftender Gestaltung des Verlaufs zeigt sich in der Musik markant in den Phänomenen Metrum als der gliedernden Zählzeit und gleichmäßigen Abfolge von Dauern sowie Takt als Abbild von Bewegung in der Zeit. Jedes akustische Ereignis, jeder einzelne Ton erhält Länge und zeitliches Ausmaß, Gewichtung und Vergleichbarkeit, erlangt Bezug. Die ordnende Wirkung der Zeit wird zum gestaltbaren musikalischen Grund­parameter Dauer und stellt Töne als Notenwerte in abhängige Ver­hältnisse zueinander. Der definierte, bewertete Verlauf eines Klanges sowie das in Dauerngruppen abgebildete Bewegen wirken form- und sinngebend und werden zur ordnenden Ausgangs­struktur von Rhythmen und Versmaß – von musikalischem Erzählen.
Jene formende Struktur aber ist unweigerlich geknüpft an das Tempo, den festzulegenden Geschwindigkeitsgrad des musikalischen Metrums. Die vermeintlich lineare Gliederung des Verlaufs in feste Einheiten, welche Ordnung und Folge ermöglicht, tritt somit in Widerspruch und Abhängigkeit zu Erleben und Empfinden. Die scheinbar objektive, alle Einzelstrukturen der Musik durchdringende und Verbindlichkeit schaffende Zeit wird durch Schwankung und emotionale Bewertung subjektiv beseelt. Die Syntax der musikalischen Zeitgestalt wird durch das für Erzählkunst unabdingbare Wechselspiel aus Spannung und Entspannung bereichert. Erst hier halten Betonung, Dramaturgie und Interpretation Einzug. Erst nun korrespondieren Einzeltöne miteinander und werden zu Melodie oder Rhythmus, Ahnung oder Erinnerung, Bogen oder Bruch. Aus dem abstrakten Raster einer regelmäßig pulsierenden Folge entsteht durch die Veränderlichkeit des Tempos erlebbare, spürbare Kunst.
«Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo», so schrieb bereits Wolfgang Amadeus Mozart 1777 an seinen allzeit kritischen Vater. Die durchdringende Bedeutung der Zeit für die Musik und die Frage ihrer Gestaltung und ihres Abbildens beschäftigt Komponisten seit jeher – allein die Konzepte und Herangehensweisen zur Formung von Verlaufs­strukturen wandelten sich durch die Jahrhunderte. Sei es beispielsweise die eindeutige Zu­ordnung von Metrik und Rhythmik in der Mensuralmusik der Renaissance, des ersten Notations­systems in der europäischen Musikgeschichte mit einer exakten Darstellung von Tondauern oder der in den 1950er Jahren die Kompositionstechnik Bernd Alois Zimmermanns prägende Gedanke einer Kugelgestalt der Zeit als Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Seien es die verschleiernden, sich vom Puls lösenden Rhythmen und Polyrhythmen der Spätromantik und des beginnenden 20. Jahrhunderts oder die Erkundung der Langsamkeit in John Cages Organ2/ASLSP aus den Jahren 1985/1987, einem so lang­sam als irgend möglich zu spielenden Orgelwerk, das seit 2001 in Halberstadt für eine geschätzte Gesamtdauer von 639 Jahren ununterbrochen erklingt. Und auch 236 Jahre nach Mozarts Aussage über die Bedeutsamkeit der Zeit für und in der Musik gilt es für den Komponisten von heute immer noch, dem fordernden a tempo Folge zu leisten und sich der Zeit und ihrer Formung zu stellen. Und manchmal beschleicht einen dabei die Frage, ob das «Härteste» daran nicht ein leeres Blatt mit den verlockend quälenden fünf Notenlinien ist, das sich einfach über Stunden und Stunden nicht füllen will!?