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Hervé Jaouen

Pardon Monsieur, ist dieser Hund blind?

Nr 162 | Juni 2013

gelesen von Simone Lambert

Eine dreizehnjährige Ich-Erzählerin erzählt mit Selbstironie, komödiantischem Talent und jugendlicher Melancholie von ihrer alzheimerkranken Großmutter. Ein Dreivierteljahr beobachtet Véro, wie die zärtlich geliebte Omama von einer
vornehmen, geistreichen, agilen Frau zu einer verwirrten, ab­wesenden, kindischen Person wird.
Véro wächst in einer intakten Intellektuellenfamilie in der Bretagne auf. Sie ist eine typische Dreizehnjährige, die sich für Jungs interessiert, ihre Eltern um den Finger zu wickeln weiß und deren Verhältnis zu ihrem älteren Bruder zwischen Ärger und Bewunderung schwankt. Eines Sommertages muss sie ihr gemütliches Zimmer mit Bad räumen, denn Omama zieht ein – ein Hausbrand war das Signal dafür, dass die alte Dame von nun an Aufsicht benötigt.
Was mit Omama geschehen soll – darüber haben Véros Maman Josée und ihr Bruder samt Schwägerin sehr unterschiedliche Ansichten. Geld, Prestige und Komfort spielen für die Verwandten die Hauptrolle bei ihren Erwägungen. Die Onkelfamilie ist «amerikanisiert» – und damit für den französischen Leser unge­bildet und gewöhnlich. Als «Dallas» wird ihr Anwesen verspottet. Tatsächlich macht die selbstbezogene, heuchlerische Art von Tante Katha und Onkel Jean Christophe den TV-Intrigen unter Öl­baronen alle Ehre. Und so drängen die beiden auf einen Haus­verkauf und eine Aufteilung des Inventars – um sich selbst zu bereichern –, während Véros Familie Omamas Glück sucht. Das führt zu von bissigem Humor geprägten Screwball-Comedy-Szenen zwischen den Antagonisten.
Jaouen schildert in seinem Roman den Verlauf einer klassischen Alzheimerdemenz in einer lebendigen Familiensituation. Véros Familie reagiert liebevoll und flexibel: Omama wähnt sich in Schwarzmarktzeiten und die Familie spielt «Kriegsende». Omama vermisst die Brosche, die ihr einst ein Verehrer vermachte – Ersatzbroschen sollen sie in Zukunft daran hindern, nächtens die Geschirrschränke danach zu durchwühlen. Omama stiehlt das Silber und versteckt es unter ihrer Matratze – dann wird eben aufgeräumt. Anfänglich begegnet die Familie ihren Einfällen mit Humor, doch die Belastung wird größer. Während man noch versucht, Omamas Hirn mit Filmen über ihr Leben zu stimulieren, reduziert sich ihr Gedächtnis immer mehr. Sie erkennt ihre Nächsten nicht mehr, verschwindet in ihrer Erinnerung und sieht sich als Kind oder als junge Mutter, die ihre «Kleinen» vermisst. Beim Weihnachtsmahl vergisst sie das Kauen – von nun an gibt es nur noch Babynahrung für sie.
Das Buch, schon länger im französischen Original ein Erfolg, beweist Prophetie: Demenz und der Umgang damit sind ein wichtiges gesellschaftliches Thema ge­worden. Jaouen schildert Alzheimer als mögliches Ende eines erfüllten Lebens nicht einmal tragisch, sondern eher als Prüfung der Kinder. Wenn Véro schließlich frühreif erkennt: «Véro, du wirst Omamas Gedächtnis sein, bis du alt wirst und es selber verlierst, dein Gedächtnis», dann hat sie begriffen, dass es das Bewusstsein einer ganzen Generation ist, die das Alter trägt – oder eben nicht. Das Leben endet immer – aber wie wir das heute nehmen, darüber hat Hervé Jaouen ein Jugend­buch geschrieben, das klug und unterhaltsam zugleich ist.

Dieses Buch über Demenz und Familienbande zeigt mit Humor und Esprit, dass es nur an uns liegt, was wir aus dem Leben und seinem unausweichlichen Ende machen!


Lernen Sie in der Rubrik «am schreibtisch» den Autor Hervé Jaouen kennen!