Virginia Wangare Greiner im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

«Wir laufen mit dem Kopf»

Nr 163 | Juli 2013

Es ist nicht leicht für mich, den Weg zu «Maisha e.V.» zu finden, denn das kleine Informationsbüro für afrikanische Familien samt Selbsthilfegruppe für afrikanische Frauen ist nur über einen unscheinbaren Nebeneingang und ein langes Treppenhaus zu erreichen. «Maisha» bedeutet auf Suaheli «das Leben», und Virginia Wangare Greiner, die in Kenia aufwuchs, ist Mitbegründerin dieser Initiative, die vor Jahren in ihrem Wohnzimmer in Frankfurt/Main begann. Die Sozialarbeiterin arbeitet seit 2001 in der «Internationalen Humanitären Sprechstunde für afrikanische Frauen» bei der Stadt Frankfurt und als Geschäftsführerin beim Verein «Maisha e.V.». Sie wurde für ihr Engagement mit mehreren Preisen ausgezeichnet; seit 1999 ist sie zudem Trainerin für interkulturelle Kompetenz bei der Hessischen Polizei.
Das Leben anderer – was wissen wir wirklich von ihnen, ihren Erfahrungen aus Afrika, ihrem Leben hier in Deutschland, als Minderheit? Aber warum überhaupt mehr wissen von diesen Menschen, hat Deutschland nicht genug Probleme? «Wir laufen mit dem Kopf», meint Virginia Wangare Greiner, die nach über 30 Jahren Leben und Arbeiten in Deutschland auch die deutsche Mentalität in sich entdeckt. Und erzählt, wie sie sich bei einem Besuch in Kenia dabei ertappte, statt mit ihrer Schwester wie verabredet zu bummeln, gewohnheitsmäßig zügig und zielstrebig voranzulaufen. Vergessen das gemeinsame Schauen, Plaudern und sich Freuen an schönen Entdeckungen – bis die Schwester ihr auf die Schulter tippte. Und wer tippt uns auf die Schulter und fragt: «Wo rennst du hin?» Unser Tempo, unsere Geschäftigkeit, die Gleichgültigkeit gegenüber unserem Nächsten und der Natur begrenzen unsere Lebensfreude (man nennt es Stress). Augenblicke, Begegnungen mit Menschen aus fremden Kulturen wie Afrika können Wachmacher sein und uns etwas von ihrem anderen Reichtum vermitteln – und die Gemeinsamkeit spüren lassen: unser Mensch-Sein.

Doris Kleinau-Metzler | Frau Wangare Greiner, hier liegt die Broschüre aus: Enjoy the Time with your Baby – Genieße die Zeit mit deinem Baby. Ich erinnere mich nicht an Broschüren mit Gesundheitstipps für werdende Mütter, die die Freude so in den Mittelpunkt stellen. Wie sind Sie auf den Titel gekommen?
Virginia Wangare Greiner | Wir waren spontan alle sofort davon überzeugt, als eine Frau aus dem Kreis um Maisha e.V. die Idee hatte; irgendwie kommt es aus unserer afrikanischen Sprache und Vor­stellungs­welt, in der die unmittelbare Lebensfreude die Menschen prägt. Diese Broschüre soll Wissen um diese erste Zeit mit dem Baby vermitteln, denn manches (wie falsche Ernährung) ist schädlich und nicht mehr rückgängig zu machen. Aber als Erstes ist es so wichtig und schön, sich mit dem Kind zu freuen; ich habe es selbst sehr genossen, als meine Kinder klein waren. Ja, überhaupt Freude zu haben – und, wenn es dir gut geht, das auch zuzugeben: «Es geht mir gut!», das ist so wichtig für unser Leben! Natürlich, es kann nicht immer nur schön sein – so wie auch nicht jeden Tag die Sonne scheint. Und wenn sie immer scheinen würde, wüsste man es nicht so zu schätzen, wie dieses Jahr nach dem langen kalten Winter hier: Am ersten warmen Sonnentag hatte ich das Gefühl, aufzublühen wie ein Blume. Aber wir gewöhnen uns schnell an das, was wir uns lange gewünscht haben – und schätzen es nicht mehr als etwas Besonderes. Bald ist es dann nur Nebensache. Das gilt für so vieles in unserem Leben: Man will immer etwas, aber wenn man es hat, vergisst man schnell den Unterschied zu vorher. Wir brauchen Träume, die Sehnsucht, aber auch die Erinnerung, das Zurückschauen.

DKM | Sie sind in Kenia aufgewachsen und als junge Frau mit ihrem deutschen Mann nach Deutschland gekommen. Wie schauen Sie nach über 30 Jahren auf die Unterschiede der beiden Kulturen?
VWG | Wir Menschen sind alle als Einzelne unterschiedlich, aber wir werden auch durch die Kultur geprägt, in der wir leben – bis in die Art hinein, wie wir uns bewegen, wie wir denken und fühlen. Wenn ich zu Besuch in Kenia bin, werde ich oft gefragt, wo ich eigentlich herkomme. Ich spreche ihre Sprache, aber die Menschen merken das Deutsche in mir, denn irgendetwas ist anders an mir, wie ich mich bewege, verhalte – selbst wenn es uns oft nicht bewusst ist. Als meine Schwester mir bei meinem Besuch in Nairobi sagte: «Wo rennst du hin? Wir wollten durch die Stadt bummeln, aber du rennst und ich muss hinterherrennen», war ich schockiert. Ähnlich laufe ich manchmal hier durch den Ostpark und frage mich danach: Was hast du eigentlich gesehen – welche schönen Blumen und Bäume, was haben die Leute angehabt, an denen du vorbeigelaufen bist? Ich bin einfach mit dem Kopf gelaufen, war eigentlich gar nicht «echt» als ganzer Mensch da. Aber wir sind Teil der Natur; Kopf und Natur gehören zusammen – und beide Seiten gehören zu mir, die aus Kenia und die aus Deutschland. Das auszubalancieren ist immer wieder eine Herausforderung für mich, und ich will mich weiter dafür engagieren, Deutschland und Afrika zu verbinden.

DKM | Was meinen Sie konkret mit Ihrem Engagement?
VWG | Ich sehe viele Aufgaben für mich, die oft mit Afrika verknüpft sind, aber auch mit den in Deutschland lebenden Afrikanern und Deutschen. In Afrika selbst ist mehr Aufklärung notwendig, zum Beispiel über die Bedeutung der Frauenarbeit für den Unterhalt der Familie, aber auch über Menschenhandel sowie über Gesundheit und rituelle Beschneidung von Mädchen. Als afrikanische Frauenorganisation erreichen wir viele afrikanische Familien und können das Tabu-Thema Beschneidung so ein­bringen, dass man mittlerweile in der afrikanischen Community darüber redet. Es brauchte Zeit, aber jetzt erreichen wir auch junge Mütter, um zu verhindern, dass sie ihren Kindern schaden, nur weil sie einfach etwas von ihrer Tradition übernehmen, ohne sich damit auseinanderzusetzen. Wir haben inzwischen über 60 Mediatoren aus verschiedenen afrikanischen Communities, die Aufklärungs­arbeit, Beratung und Begleitung anbieten.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

DKM | Auch im 21. Jahrhundert hört man rassistische Vorurteile und liest von Beleidigungen aufgrund der anderen Hautfarbe – im Fußball ewta durch abfällige Beschimpfungen von Zuschauern. Vor Kurzem erzählte mir eine examinierte Altenpflegerin mit jahrelanger Berufspraxis, gebürtig aus Afrika, dass sich eine alte, geistig wache Frau auf ihrer Station nicht von ihr waschen lassen will – sie will jemanden mit «weißer Hautfarbe». Bei einer anderen Kollegin dauert die Medikamentenausgabe immer länger als bei der hellhäutigen Kollegin, weil manche Klienten ihr aufgrund ihrer Hautfarbe Lesen und Zählen wohl nicht zutrauen. Wie kann man damit umgehen?
VWG | Rassismus gibt es noch in vielen Bereichen. Alte Menschen sind während der Nazizeit mit Rassismus aufgewachsen, und manche haben sich nicht weiterentwickelt. Bevor ein Afrikaner anfängt, über seine Erfahrungen mit Rassismus zu sprechen, vergeht viel Zeit. Man erduldet es, versucht die Be­merkungen zu überhören, will nett sein. Viele Verletzungen, viele Kränkungen, die immer wieder wehtun, werden geschluckt.

DKM | Was kann man dagegen tun?
VWG | Zeichen setzen und sich aktiv damit auseinandersetzen, als Mitmensch, als Kollege, vor allem aber als Vorgesetzter. Auch hier ist entscheidend, dass man das Opfer des Rassismus nicht allein
lässt – nicht das Opfer, sondern die Umgebung muss sich aktiv und offensiv damit auseinandersetzen. Im Fall des Pflegeheims müsste die Leitung klar und eindeutig mit der Bewohnerin sprechen, dass ihre Haltung hier nicht akzeptiert wird, und zeigen, wie sehr sie die Arbeit der Mitarbeiterin schätzt. Wenn man nichts tut, wird die Situation immer schlimmer. Es gibt in Deutschland inzwischen viele Dunkelhäutige afrikanischer Herkunft, die gut ausgebildet sind; besonders im sozialen Bereich werden sie ge­braucht. Jeder Verantwortliche muss die Zeit und Kraft investieren, gegen rassistische Diskriminierung vorzugehen – gute menschliche Beziehungen kommen uns allen zugute.

DKM | Was sehen Sie als größtes Problem von aus Afrika ein­gewanderten Menschen hier?
VWG | Wie auch andernorts: die Sprache. Erst das Lernen der deutschen Sprache er­möglicht den Zugang zur Mehrheits­gesellschaft und damit auch zu Sozialkontakten – mit Nachbarn, beim Einkaufen, auf dem Elternabend der Kinder, bei Behörden. Aber auch für den, der gut Deutsch kann, ist es oft schwer, Kontakte außerhalb der afrikanischen Community herzustellen – denn viele sind aus ihrer Heimat andere Umgangsformen gewöhnt, hatten ein unkompliziertes und freundschaftliches Ver­hältnis zu ihren Nachbarn im Dorf. Hier grüßt man sich oft nicht einmal. Afrikaner erleben diese Distanz und Hektik im Alltag als belastend. Mittlerweile weiß ich es schon zu schätzen, wenn jemand zu mir im Fahrstuhl sagt: «Tolles Wetter heute.» Durch einen freundlichen Gruß, eine kleine Bemerkung entsteht doch etwas Positives; für einen Augenblick freuen wir uns gemeinsam – und manchmal wird mehr daraus. Die Gemeinschaft mit anderen Menschen bereichert uns immer wieder; deshalb sollten wir nicht vergessen, das Alltägliche wertzuschätzen, dankbar dafür zu sein – auch für die Einladung zum Kaffee bei einer Freundin.

DKM | Afrika gerät immer wieder in die Schlagzeilen, zum Beispiel mit Kriegen. Aber wenn man nur auf Sensationsmeldungen schaut, vergisst man oft unsere eigene Geschichte (Glaubenskriege, Leib­eigenschaft, Feudalherrschaft, Verelendung während der Industrialisierung, Kriege zwischen Nachbarländern bis ins 20. Jahrhundert hinein usw.) – und damit den langen Weg bis zu heutigem relativem Wohlstand, Freiheit und Frieden. Wie sehen Sie die politische Zukunft in Kenia?
VWG | Es gab und gibt viele politische Konflikte, von denen auch meine Familie betroffen war. 2007 gab es aus Anlass der Präsidentenwahl ethnische Auseinandersetzungen, die ihre Ursachen in lange zurückliegenden Strukturen haben. Aber wenn man sich lange mit Kenia beschäftigt, sieht man, dass sich die Intensität der Konflikte verringert hat und das Land sich weiter in Richtung Demokratie mit einem Mehrparteiensystem entwickelt. Die letzte Wahl im März 2013 war vergleichsweise offen und frei, auf allen Ebenen: Viele haben mitdiskutiert und ihre Meinung gesagt. Das ist eine großartige Entwicklung. Die Menschen dort nehmen ihr Wahlrecht sehr ernst und sind oft Stunden gewandert, haben lange in Schlangen vor den Wahllokalen angestanden, um ihre Stimme abzugeben – weil sie unbedingt ihren politischen Willen bekunden wollten. Ganz anders als hier bei Wahlen.

DKM | Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
VWG | Ich werde mich weiter für die Integration engagieren, auch um eine stärkere interkulturelle Öffnung des öffentlichen Bereichs, von Behörden und Ämtern zu ermöglichen. Wir sind auf einem guten Weg, aber wir müssen offensiver werden. Deshalb hoffen wir, unsere Arbeit weiter ausbauen zu können, größere Räume und finanzielle Unterstützung zu bekommen und vielleicht irgendwann ein Afrikahaus in Frankfurt gründen zu können. Immer mehr aus Afrika stammende Menschen werden hier alt und wünschen sich offene Begegnungsstätten, um Kontakte und Kultur pflegen zu können, auch mit deutschen Gästen.