Maria A. Kafitz

Lob der späten Stunde

Nr 163 | Juli 2013

Wir alle saßen wohl schon einmal aus ganz unterschiedlichen Gründen an einem Tisch mit einem Menschen, der – den sommerlichen Temperaturen zum schwitzenden Trotz – einen Anzug und natürlich ein Hemd mit kragenschließender Krawatte trug. Gerne hätten wir ihn daraus befreit. Gerne hätten wir ihm zugerufen oder für den Kleidungsdoublechef unhörbar zuge­flüstert, dass seine Hinweise und Ratschläge, seine Argumente und Analysen nicht weniger seriös und glaubwürdig sind, wenn er sie im offenen (nun ja, am Hals offenen) Hemd und Leinenhose oder gar in T-Shirt und Jeans vorgetragen hätte. Doch scheinbar greift hier immer noch der Irrglaube, dass wir nur mit den Augen hinhören. Und wenn unsere Augen zu viel vermeintliche Lässigkeit wahrnehmen, dann würden sie misstrauisch. Dann würde der identisch formulierte Satz vom Hemdoffenen anders bewertet als vom Krawatten­mann. Dass trifft im Übrigen fürs Kostümchen oder den akkurat sitzenden Hosenanzug in gleichem Maße zu.
Was sich hier an der äußeren Erscheinung zeigt, was sich hier als «solide Norm» des Auftretens ausgebildet hat, zählt zu jenen gesellschaftlichen Regeln, die einen immer wieder staunen lassen – oder es zumindest sollten. Eine andere dieser Regeln besagt sprichwörtlich, dass nur der frühe Vogel den Wurm fange und dabei auch noch Gold im Mund respektive dem Schnabel habe. Sollte man da nicht sogleich allen Würmern empfehlen: Zeigt euch später! Lasst euch Zeit! Denn dann ist der frühe Vogel ungeduldig davongeflattert und ihr habt einen weiteren Tag überlebt!?
Aber was wird dann aus dem hungrigen Vogel? Vielleicht ließe er sich ja mit Körnern trösten. Vielleicht. Doch ganz gleich, was mit dem symbolischen Federvieh und den Kriechtierchen auch geschehen wird, in diesen Redewendungen, die sich – ein jeder kann es sofort versuchen – reichlich ergänzen ließen, liegt nicht nur eine Wertung, es liegt eine Bewertung darin.
Wer erfolgreich und zielstrebig, fleißig und produktiv sein will, dem schlägt nämlich die frühe Stunde. Respekt und Bewunderung steht zudem meist auf den staunenden Stirnen jener geschrieben, die hören, dass ein anderer schon vor 8 Uhr im Büro oder sonst wo war. Bravo! Aber warum? Warum ist dagegen der Begriff des so­genannten «Langschläfers», der oft gar nicht Langschläfer, sondern «Anders-» oder «Versetztschläfer» heißen sollte, da er eben zwischen 1 und 9 Uhr statt zwischen 23 und 7 Uhr (so die statistische Durch­schnittsschlafzeit in Deutschland) schläft, so negativ besetzt? Und warum sind die Blicke der «Frühbestauner» fast mitleidig und ihr unausgesprochener Unterton fast hörbar, wenn ein «Andersschläfer» darum bittet, Termine nicht vor 10 Uhr anzusetzen? Wer möchte, kann ja liebend gerne bei Sonnen­aufgang den Tag beginnen – anderen gönne man hingegen einfach den Genuss der späteren Stunden. Wertfrei und bewertungsfrei. Dass aber ab 22 Uhr vieles als Ruhestörung polizeilich beruhigt werden darf, muss und wird, während es nur Verwunderung hervorruft, würde man auf der gleichen Wache gegen einen Presslufthammer ab 7:15 Uhr vorgehen wollen, scheint zwar ärgerlicher, aber eben akzeptierter Teil eines gesellschaftlichen «Morgenstundkults».

Ich gestehe, ich bekenne, aber ich bedaure nicht: Ja, die Stunden vor 10 Uhr sind auch mir ein «Morgengrauen». Sie sind die meinen nicht – und ich habe aufgehört, dies ändern zu wollen. Was die meisten von uns in der Pubertät «heimsucht», die Verlockung später Stunden, die dadurch meist viel zu kurzen Nächte und mit ihnen das Gefühl, dass beispielsweise die Schule viel zu früh beginnt, hat sich wohlig und wohnlich in meinem Wesen eingerichtet. Ist seither geblieben. Ist mein Rhythmus geworden – und war es wohl auch schon zuvor.
Nun ließen sich hier unter aufkeimendem Rechtfertigungs­druck wissenschaftliche Begründungen der «inneren Uhr» oder gar ge­netische Veranlagungen anführen, der vielzitierte Unterschied zwischen «Lerchen» und «Eulen» bemühen oder so helle Köpfe wie Albert Einstein, von dem es heißt, er sei vor 10 Uhr morgens ungenießbar wie ein bitterer Pilz, oder Schönheiten wie Marilyn Monroe, einer Spätaufsteherin aus Leidenschaft, benennen. Natürlich ließen sich auch Literaten finden, die die Qualität der späten Aufstehstunde besingen, wie etwa Theodor Fontane, der schrieb: «Wenige haben den Mut, zu essen, wenn sie hungern, noch wenigere den Mut, zu schlafen, wenn sie müde sind. Alle haben wir die Neigung, uns zum Sklaven der Stunde und der Überlieferung zu machen.» Oder Franz Kafka, der es trefflich in Die Verwandlung formulierte: «‹Dieses frühzeitige Aufstehen›, dachte er, ‹macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muss seinen Schlaf haben.›» Letztlich aber sollte es keiner Begründung bedürfen. Letztlich sollten wir einfach nur wahrhaft und mit Sensibilität auf und nach uns schauen, uns (be)achten.
Dass wir die Nacht zum Tag gemacht haben, als wir unsere Zimmer und mit ihnen gleich ganze Landstriche elektrisch erleuchteten, ist nicht für alle zwingend ein Gewinn und meist auch eine gnadenlose Verschleuderung von Ressourcen – wer um alles in der Welt braucht um 3 Uhr in der Früh Leuchtreklame in Industriegebieten oder angestrahlte Schaufenster in quasi menschenleeren Fuß­gängerzonen? Niemand.
Für all jene aber, die bei Tageslicht durch die Überfülle an Sinneseindrücken mit ihren Gedanken flattern wie die Motten ums Licht, ist der Moment, wenn es wieder dunkler wird, sich der gerichtete Schein einer Lampe auf ein Ziel konzentriert, eine andere Form von Erleuchtung. Denn wenn andere langsam in den Zustand zufriedener Schläfrigkeit abgleiten, erhöht sich bei manchen dann der Denktakt. Kommen Ideen. Fliegen Einfälle zu. Werden offene Fragen weniger rätselhaft.
Warum also sollten alle festhalten an den sogenannten «Kernzeiten»? Warum sollte man dort, wo es nicht zwingend notwendig ist, um 8 Uhr da sein, wenn man im Grunde noch gar nicht anwesend ist? Wenn die Hülle sich zwar mit Mühe, Überwindung und «dank» lärmender Weckerbeschallung hingeschleppt hat, der Inhalt aber erst ein, zwei, drei Stunden später nachkommt? Wem ist damit geholfen, in einer Gegenwart, die in den meisten Lebensbereichen nicht mehr mit dem Hahn krähen müsste?
Kurt Tucholsky forderte einmal in seiner unnachahmlichen Art: «Gebt den Leuten mehr Schlaf – und sie werden wacher sein, wenn sie wach sind». Ja! Gebt ihnen vor allem aber mehr Gelassenheit und Freiheit beim Einteilen ihrer Lebenszeit – jenseits von festgefahrenen Normen. Lasst sie einfach fliegen, die Lerchen und Eulen, zu ihrer Zeit und mit den jeweils besonderen Qualitäten, die beide nur so haben können.