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Benjamin J. Myers

Der Kristallreiter

Nr 163 | Juli 2013

gelesen von Simone Lambert

Es ist eine einzige Geste am Schluss des Romans, nach all den Schlachten und Kämpfen, die begreiflich macht, um welche Kraft sich die Gegner in diesem Epos bekriegen. Wenn Chess die Hand hebt und mit dieser Bewegung die Flammen einer nuklearen Explosion erstarren lässt, offenbart sich – ihren Freunden wie dem Leser – die Macht ihres Wesens.
Erneut öffnet sich uns die Welten umspannende Science-Fiction-Story um die Bad Tuesdays, die Geschwister Splinter, Box und Chess. Die Verbogene Symmetrie strebt das Ende der Welt an, das einen statischen, endlosen Frieden für die Machthaber sichern soll. Das Komitee unter der Führung von Ethel, einem als schlampige Oma getarnten machtvollen Wesen, streitet für Individualismus und den freien menschlichen Willen. Der Konflikt steuert auf die Klimax zu: Die Symmetrie hat die Endgame-Order gegeben: Alle Mitarbeiter und Anhänger des Komitees sind zu eliminieren.
Nachdem Chess von ihrem Bruder Splinter den Inquisitoren ausgeliefert wurde, wird sie einer qualvollen Prozedur ausgesetzt. Milliardenfaches Leid, von der Symmetrie «abgeerntet», wird in ihren Körper eingeführt. Wird sie bereit sein zum angestrebten Zeitpunkt zu explodieren, um «die Ewige zu aktivieren»? Wie wird sie, die ihr Vertrauen in die Liebe verloren hat, das in Energie verwandelte Leid benutzen?
Splinter, gefangen im goldenen Käfig, den ihm sein Verrat eingebracht hat, bereut und will Chess retten; ebenso Box, der sich auf dem Hundeplaneten der Symmetrie zum nahezu unbesiegbaren Kämpfer hochtrainiert hat. Box wird zu einem Eisenreiter zurechtoperiert, was innerhalb des militärischen Systems als Auszeichnung gilt. Sein Körper und sein Nervensystem werden mit metallenen Prothesen verbunden, die ihm außergewöhnliche Kräfte verleihen. Sein actionreicher Weg über die Schlachtfelder der Kristallkriege zurück zum Heimatplaneten bis zu der Warp-Station, auf der Chess gefangen gehalten und gefoltert wird, steht im Fokus dieses Romans. Anders als Splinter schließt Box Freundschaften und kämpft nicht allein: sein Kamerad Razool begleitet ihn stets. Und Anna, die Freundin von Chess, die schöne, starke und intelligente Schwertkämpferin. Zwischen ihr und Box bahnt sich eine Liebesgeschichte an, nachdem ihr Box in tödlicher Bedrohung zu Hilfe geeilt ist. In der Mission, Chess zu befreien, finden sie zusammen. Mit der Rettungsaktion erreicht der Roman seinen dramatischen Höhepunkt. Annas Schwertkampfkunst, die der Amazone den Glamour einer Manga-Figur verleiht, und die Kraft und der Optimismus von Box zeigen sich der Übermacht und der futuristischen Technologie der Gegner gewachsen. Diese erweisen sich dann doch als sterbliche Wesen aus Fleisch und Blut.
«Die Welt ist ein so schrecklicher Ort», wird Chess am Ende feststellen. Zuvor sagt Ethel über Splinters Idiotie: «Der Raum für Besserung ist der größte im Haus.» Ob nun der Schmerz einer gebeutelten Kreatur oder die Weisheit der Reife über die Zukunft entscheidet, bleibt noch offen.
Chess’ Opfergang und die übermenschliche Kraft, die sich in ihrer Christusgeste ausdrückt, zielen auf die Frage: Braucht das Drama des Menschen einen Erlöser? Und wie sieht Erlösung aus? Die Wucht und die Liebe, die in dieser Frage stecken, sind ein und dasselbe. Die Antwort – so ist zu hoffen – folgt im sechsten und letzten Band.


Die zentrale Frage lautet: Braucht das Drama des Menschen einen Erlöser? Und wie sieht Erlösung aus?