Christian Kaiser

Astburgen - Stammschlösser - Biberglück

Nr 164 | August 2013

Am Elbstrand in Hamburg stoße ich bei einem Spaziergang auf sauber abgeknabberte Äste, die bei näherem Hinsehen die Zahnspuren eines Bibers aufweisen. Der Anblick ist überraschend, besonders da der Hafen direkt gegenüber liegt. Diese einst um Haaresbreite ausge­rottete Tierart ist mittlerweile in ganz Europa geschützt – sie dürfen also nicht mehr gejagt werden, und es scheint, als sei dies der Grund für ihre erneute Ausbreitung in freier Wildbahn.
Meine erste Begegnung mit Bibern liegt lange zurück, sie fand einige Hundert Kilometer die Elbe aufwärts statt. Damals waren die Tiere sehr selten und außerdem äußerst scheu. Am Elbufer in der Nähe des Wörlitzer Parks sah ich meinen ersten Biber. Ich wusste nicht, ob ich meinen Augen trauen durfte, denn eigentlich hieß es damals, der Biber sei ausgestorben. Zumal es untypisch für ein nachtaktives Tier ist, am helllichten Tag auf einem Baumstamm zu sitzen. Doch im nahen Biosphärenreservat Lödderitzer Forst in Sachsen-Anhalt hatten die letzten Elbebiber überlebt – es war also keine Einbildung, was ich da mit aufgeregtem Herzen sah.
Nun, einige Jahre später, fragte ich mich: Wo finde ich im Umland Hamburgs, einer zwei Millionen Einwohner zählenden Metropole, Spuren von Bibern, vielleicht angebissene Äste, gefällte Bäume oder gar eine Biberburg? In der Niedersächsischen Elbtalaue mache ich mich auf die Suche nach den größten unter den Nagetieren. Nur eine Autostunde von meinem Wohnort entfernt stoße ich auf den ersten Tatort: Das Weidengebüsch direkt am Elbufer weist in Niedersachsen an vielen Stellen sichtbare Fress­spuren auf, ganze Äste sind abgebissen. Später entdecke ich einen halb durchgebissenen Baumstamm, der eine tiefe, sanduhrartige Einkerbung aufweist – Volltreffer!

Dieter Schmidt, ein pensionierter Lehrer aus Bleckede, ist ehrenamtlicher Biberbetreuer und zudem ein erfahrener Naturkenner. Wir verabreden uns, um im «Biosphärenreservat Niedersächsische Elbtalaue» auf die Suche zu gehen. Das warme Wetter des Spätsommers ist ideal für Biberbeobachtung. Die Umgebung von Schmidts Wohnort, dem Elbstädtchen Bleckede, ist das Revier einer stattlichen Biberpopulation. Schmidt zeigt mir seinen «Lummer­land» genannten Lieblingsbiberbau. Das System aus Hoch­wasserburg und zwei weiteren, tiefer liegenden Bauten ist beeindruckend, aber nach anhaltender Störung von den Tieren verlassen worden. Nicht weit von Gorleben entfernt gibt es ein anderes Biberrevier – hier soll meine Biber­beobachtung weitergehn. Welch Ironie der jüngeren Geschichte, denke ich: Gorleben – bei diesem Namen denken wir alle an Atommülltransporte in Castoren und gerade dort will ich den suchen, dessen lateinischer Name Castor fiber ist …
Stille liegt über dem Auenland, als ich mich zu Fuß auf den Weg mache. Ein Kranichpaar trompetet in der Ferne; das hohe Gras unter meinen Schuhen ist noch nass vom Tau der Nacht. Ein
rötlicher Streifen am Horizont kündigt den neuen Tag an. Die Natur zeigt ihre milde Seite. Ob der scheue Meister Bockert, wie der Biber in einigen Fabeln genannt wird, sich heute überhaupt zeigen wird? Ja! Dort am Ufer sind seine Schleifspuren zu sehen, und ein frisch geschälter Baum zeigt mir, dass ich an der richtigen Stelle im Gelände bin.
Es platscht, doch das muss ein springender Fisch gewesen sein. Biber hört man nicht, doch sie hören uns Menschen. Minuten später schwimmt das erste Pelzgesicht aufs Ufer zu. Kurz davor taucht er noch einmal ab, kriecht an Land und beginnt zu fressen. Dann klingt es, zuerst kaum hörbar, «Ripps, ripps, ripps» zu mir herüber. Biber sind reine Pflanzenfresser. Sie nutzen die in ihrem Lebensraum häufigsten Pflanzenarten als Nahrung und als Bau­material. In der Vegetationsperiode nehmen sie neben jungen Trieben und Blättern von Bäumen auch Gräser und krautige Pflanzen auf. Im Winter steht die grüne Rinde der Zweige auf dem Speiseplan.
Der Tau hat meine Lederschuhe durchnässt und zieht die Hosen­beine hinauf. Die Mücken sind schon hellwach, um überall gleichzeitig anzugreifen. Ich schaue durchs Fernglas und versuche, nicht auf die Insekten zu achten. Da schwimmt der alte Biber vorbei, er ist viel größer als die diesjährigen Jungen, sein Fell ist schon ergraut. Neugierig kommt er näher, mit seinen wachsamen Ohren hat er mich längst entdeckt. Angst hat er anscheinend nicht vor mir. Sehen können Biber angeblich nur sehr eingeschränkt.

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Fotos: © Christian Kaiser (www.kaiser-photography.de)

Wegen ihres wertvollen Pelzes und wegen des Drüsensekrets, «Bibergeil» genannt, wurden die Nager weltweit bis an den Rand der Ausrottung bejagt. Der Duftstoff, lat. Castoreum, mit dem Biber ihre Reviere markieren, wurde ihnen zum Verhängnis, weil es in der Volksmedizin als Allheilmittel angesehen und teuer bezahlt wurde.
Da Castors Schwanz deutliche Schuppen aufweist, erhob ein mittel­alterliches Papstedikt das Tier zur Fastenspeise. Obwohl die Gefahr der Verwechslung mit den Fischen nicht wirklich der Grund ge­wesen sein kann, hatte der Biber es von nun an unnatürlich schwer.
Der Schwanz, auch Kelle genannt, ist flach, breit, unbehaart und hat eine schuppenartige Haut. Er dient als Steuer, Antriebsorgan und Fettdepot. Wird ein Biber gestört, warnt er durch Schlagen mit der Kelle auf die Wasseroberfläche seine Artgenossen. Das Platschen gleicht einem Knall – vielleicht soll es auch zugleich die Feinde abschrecken.
Der Europäische Biber war ursprünglich in weiten Teilen Eurasiens heimisch und bewohnte ein breites Gebiet zwischen Skandinavien und Südfrankreich, schaffte es bis nach Sibirien und die südwest­-liche Mongolei. Dann jagte und verfolgte man ihn. Nahm ihm den Lebensraum. Nur in vier seiner Stammreviere konnten sich Reste der Population halten: Mittlere Elbe, Unterlauf der Rhône, süd­liches Norwegen und im Gebiet der Beresina bis zum Dnepr. Und das, obwohl bereits 1714 der preußische König Friedrich Wilhelm I. eine Anordnung erließ, den Biber zu schonen und seine Vermehrung zu fördern. Trotzdem waren Ende des 19. Jahr­hunderts weite Teile Deutschlands und Europas biberfrei.
Manchmal aber besinnt man sich. Denn sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern wurden von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Schutzprogramme umgesetzt und Biber wieder eingebürgert. Die damalige DDR machte aus ihren Biberbeständen sogar einen Devisen­beschaffer, die Tiere wurden weltweit gegen harte Währung veräußert.
In Deutschland lebt der Biber inzwischen wieder in fast allen Bundesländern. Seine Reviere hat er sich durch Wanderbewegung wieder erschlossen, teilweise wurde er aber auch durch gezielte Projekte neu angesiedelt. Die Verbreitungsgebiete liegen an Peene, Oder und Elbe sowie den meisten Zuflüssen in den Bundesländern Sachsen-Anhalt und Brandenburg, dem Kernvorkommen der ursprünglichen Elbebiber. Gut entwickelt hat sich auch der bayerische Bestand, der jedoch auf Einbürgerungen von Bibern gemischter europäischer Herkunft zurückgeht. Kleinere Bestände gibt es im Spessart, selbst in Berlin ist der Biber inzwischen wieder heimisch!
Die Niedersächsische Elbtalaue wurde nach der Grenzöffnung für kurze Zeit zum Nationalpark erklärt, doch das ging einigen der hier ansässigen Landwirten erheblich zu weit und der Nationalpark musste auf ihren Druck rückgängig gemacht werden. Dem Vormarsch der fleißigen Nagetiere aber stand nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nichts mehr im Weg. Das einmalig schöne Elbetal hat man inzwischen zum länderübergreifenden Biosphärenreservat erklärt, und der Schutzstatus ist mancherorts höher, als er im Nationalpark gewesen wäre. So können auch in Zukunft Adler, Schwalben, Störche, Kraniche, Kiebitze, Gänse und Schwäne wie jedes Frühjahr in dieses weite Auenland ziehen. Mücken, Unken, Frösche, Libellen und zahlreiche Schmetterlinge als Nahrung gibt es hier recht üppig, da vorrangig eine extensive Landwirtschaft betrieben wird.

Unter einer alten Weide am Ufer hat sich eine Biberfamilie häuslich eingerichtet. Die Biberburg besteht aus einer Vielzahl von armdicken Ästen, die auf Länge gebissen werden, um sie besser schichten zu können. Biber legen Baue in Böschungen von Gewässern an. Diese Bauten besitzen stets unter der Wasseroberfläche liegende Eingänge und bestehen aus mehreren Röhren, die in einem über dem Wasser liegenden Wohnkessel münden. Die Baue haben eine Belüftungsröhre nach außen, sind sonst aber abgeschlossen, gut isoliert und trocken. Wenn Boden oder Decke zu dünn werden, wird weiteres Material aufgeschichtet. Durch diese Bauweise entstehen die typischen «Biberburgen», die oft von mehreren Generationen bewohnt werden. Lange Zeit bewohnte Burgen können einen Durchmesser von bis zu zwölf Metern und Höhen bis zu zwei Metern erreichen.
Biber leben monogam, sie gehen eine lebenslange Partnerschaft ein. Nur wenn einer der Partner stirbt, sucht der überlebende Biber sich einen neuen Partner. Familienverbände bestehen aus den Eltern und der Schar ihrer ein- und zweijährigen Jungtiere. Im Alter von zwei bis drei Jahren werden Biber geschlechtsreif und verlassen das elterliche Revier. Falls die Nahrungsgrundlage des Lebensraumes ausreichend ist, lassen sich die Jungen in der Nachbarschaft ihrer Eltern nieder. Sind alle potenziellen Reviere besetzt, kommt es leicht zu Beißereien, die Jungbiber versuchen dann, auf dem Wasserweg ihren neuen Lebensraum zu erschließen. Die Paarung der Biber findet im zeitigen Frühjahr unter Wasser statt. Nach einer Tragzeit von etwa 100 Tagen kommen Ende April, Anfang Mai bis zu vier Junge zur Welt. Diese sind voll behaart und können schon nach der Geburt sehen – sind also Nestflüchter. Die Jungen werden etwa zwei bis zweieinhalb Monate gesäugt und beginnen bereits mit acht Tagen, pflanzliche Kost wie Schilf und Gras aufzunehmen. Bis zu einem Alter von vier bis sechs Wochen bleiben sie im Bau, danach machen sie erste Ausflüge in Begleitung der Eltern oder der älteren Geschwister. Sie können schon schwimmen, müssen das Tauchen aber erst noch lernen.

Lernen – ja, lernen kann auch der Mensch vom Biber, zum Beispiel das sprichwörtliche Durchbeißen. Nach einigen durchwachten Nächten in der Aue mache ich mich auf den Heimweg. Zum Abschied drückt mir Dieter Schmidt seinen gehüteten Schatz in die Hand: Der Biberlilienteich. Die Amerikanerin Hope Ryden hat dieses wunderbare Buch geschrieben, dem die folgenden Zitate entstammen: «Die Biber verhielten sich so leise, als wären sie gar nicht da.» – «Dem Biber haftet etwas Rätselhaftes an, das an Kobolde, Gnome und Zwerge erinnert. Er schafft nicht nur wahre Wunderwerke und kann seine Umgebung in einer einzigen Nacht vollkommen verändern, in seiner sonderbaren Gestalt ... gleicht er keinem anderen Tier. Er sieht aus wie eine Art Fabelwesen.» – Mein Lieblingssatz: «… im Gegensatz zu Menschen glauben Biber nicht alles, was sie sehen.»
Mit reichlich Biberglück im Bauch und diesen Fotos kehre ich nach Hause zurück – und komme während des verheerenden Hochwassers wieder, denn die hier gezeigten elternlosen Biberjunge sind gefunden worden und müssen jetzt liebevoll aufgepeppelt werden. Das Herz ist wieder aufgeregt.