Birte Müller

Verhandeln und verlocken

Nr 164 | August 2013

Die zwei Säulen der heutigen Kindererziehung sind ja angeblich «Erpressung» und «Bestechung». In mir sträubt es sich gegen diese Erziehungsprinzipien. Vielleicht sind meine Kinder deswegen so schlecht erzogen. Es nervt mich, wie viel ich mich ständig mit meiner Tochter absabbeln muss. Jeden Morgen diskutieren wir (seit sie zwei ist) ausgiebig ihr Outfit, welches dann auch noch täglich mehrmals gewechselt werden muss («O.K., du darfst das Erdbeer-
T-Shirt anziehen, aber dann musst du noch ein Wollhemd drunter haben»;
«Na gut, du darfst das Marienkäferkleid anziehen, aber dann musst du noch eine Leggings tragen» …). Ich nenne das nicht Erpressung, ich sage mir, dass es Kompromisse sind. Neulich, als ich bei irgendeiner Sache mal bei einem schlichten «Nein» geblieben bin und Olivia immer mit neuen Vorschlägen ankam, was sie im Gegenzug zu bieten hätte («Dafür lass ich mir dann auch die Zähne ganz lieb putzen»; «Dafür setzt ich dann auch eine Mütze auf» …), blickte sie mich mit großen Augen an und forderte empört: «Mama, du musst jetzt ‹Na gut› sagen!».
Mir wurde klar: Ich hatte mich nicht an die Feilsch-Regeln gehalten! Wir feilschen über alles Mögliche und manchmal bin ich die ständigen Diskussionen so leid, dass ich mich selber nicht mehr reden hören kann. Und dann sage ich tatsächlich diese ätzenden Dinge wie: «Wenn du das jetzt nicht einfach anziehst, dann haben wir nachher keine Zeit mehr, ein Buch zu lesen.» Oder – noch viel effektiver: «Wenn du das jetzt nicht anziehst, dann haben wir nachher keine Zeit mehr, Fernsehen zu gucken …»
Mit Willi ist das ganz anders. Zwar reden wir da auch durch­gängig, aber da er nicht selbst sprechen kann, sind es keine Diskussionen, sondern immer Monologe über das, was ich vorhabe, mit ihm zu machen, gerade mache oder gemacht habe. Mein Mann und ich haben manchmal das Gefühl, der Blinden­kommentar im Fernsehen zu sein. «Willi, ich hol dir jetzt einen Pulli aus dem Schrank. Schau mal, auf dem Pulli ist ein Auto. Willi, zieh den Pulli über den Kopf.» (Den Satz mindestens drei Mal!) Dann: «Ich zieh dir den Pulli jetzt über den Kopf, ein Arm rein, noch ein Arm rein, toll gemacht.» Bla bla bla – den ganzen Tag.
Und wenn Willi beim Anziehen herumjammert, bekommt der arme Junge trotzdem den Pulli an. Fertig. Er hat keine Lust auf Anziehen, egal ob Autos auf den Klamotten sind oder nicht.
Was auch sehr sympathisch an Willi ist: Man kann ihn nicht erpressen! Dinge wie: «Wenn du jetzt nicht beim Anziehen hilfst, dann ist später keine Zeit für Fernsehen», darf man zu ihm nicht sagen. Er kann es nicht begreifen, er würde nur «Fernsehen» hören, den Pulli sofort fallen lassen und schon mal begeistert vor die Glotze rennen. Ich mag das an ihm. Er ist so schön direkt, nie hinten herum oder verlogen.
Mit Bestechung sieht es bei Willi schon anders aus. Aber ich nenne es Motivation! Wenn ich Willi ankündige, dass wir zur U-Bahn gehen wollen, lässt er sich spontan flach auf den Boden fallen. Es handelt sich um einen kurzen Weg, der einem aber sehr lang erscheinen kann, wenn das Kind dabei 45 Minuten Sitzstreik macht oder man es tragen muss – oder beides. Als Nächstes frage ich Willi, ob er ein Würstchen möchte. Ein begeisterter Willi springt auf, der dann zwar etwas weniger begeistert drein schaut, wenn ich ihm sage: «Erst zur U-Bahn, DANN Würstchen», aber er geht mit – immerhin. Auf dem fünfminütigen Weg erinnere ich ihn dann noch mehrmals an den Sinn seiner Anstrengung (notfalls muss ich etwas mit dem Würstchen wedeln) und so kommen wir ruckzuck zum Bahnhof – immer vorausgesetzt natürlich, die Erdbeershirt-Marienkäferkleid-Frage mit Olivia ist bereits hin­reichend geregelt.