Olaf Koob

Zeit-Räume – Zeit-Rhythmen

Nr 164 | August 2013

Hat man einmal Goethes Faust gelesen, so fallen einem beim vieldiskutierten Wort «Zeitgeist» vielleicht jene Zeilen ein, die Faust in mitternächt­licher Stunde mit seinem Adlatus Wagner spöttelnd über Mensch und Welt von sich gibt: «Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln …»
Es ist wohl nicht das wahre Wesen der Zeit, dem wir in unserem Leben begegnen, das geheimnisvoll und letztlich unergründlich ist, sondern meist einem Spiegel- oder Zerrbild, das ein Resultat von persönlichen Wünschen und Meinungen darstellt und sich als Modeströmung oder sogar Dogma äußert. Somit kann es eine bedeutungsvolle Aufgabe für den Einzelnen und die Menschheit sein, sich einen inhaltsvolleren Begriff von dem anzueignen, was gewöhnlich als «Zeit-Geist» bezeichnet wird und was neulich sogar ein englischer Historiker als einen einmaligen Begriff in der deutschen Sprache herausstrich, der in anderen Sprachen in dieser Art nicht existiere.
Die Zeit ist ja für unser ganzes irdisches Erleben die zweite Kategorie neben dem Erlebnis des Raumes – und beide bilden im Zusammenwirken das, was wir als unseren «Zeit-Raum»
be­zeichnen. Wir kennen Zeitereignisse zunächst nur als Ver­änderungen in der räumlichen Welt – angefangen von den sich bewegenden Zeigern der Uhr, bis hin zum Werden und Vergehen an physischen Körpern und ihrem Echo im Seelischen – als schnelllebig, langweilig, gehetzt, harmonisch etc. Ein Übergeordnetes und vielleicht auch Ewiges, das objektiv umfassender oder auch differenzierter in unser Leben eingreift, ist uns zunächst fremd!
Dennoch können wir eine leise Ahnung bekommen, wenn wir nicht nur auf das Äußere schauen, sondern auch an uns beobachten, wie Fantasie und schöpferisches Produzieren sich mit den einzelnen Mondphasen verringern oder verstärken, wie sich die Seele im Tages- oder Jahreslauf ausdehnen oder zusammenziehen möchte oder wie persönliche Gestimmtheit sich in den ver­schiedenen Tagesphasen äußern kann. Diese Erlebnisse sind ja für unsere irdische Existenz die unmittelbaren «Zeit-Geber».
Was für ein seelisches Echo erleben wir in uns, wenn im Frühjahr die Natur aus ihrem Schlaf erwacht und die Sonne immer höher steigt? Wie ist es dann mit unseren Willens- und Gemütskräften? Sind es dann nur der Spargel oder die Erdbeeren, die uns zum Tagesgeschäft motivieren, oder erleben wir auch in uns etwas von den Auferstehungskräften und einer erweiterten seelischen Aus­atmung?
Seit vielen Tausenden von Jahren kennt man in der traditionellen chinesischen Medizin eine Gesundheitslehre, die im Zusammen­hang mit den Jahreszeiten entwickelt wurde, da man noch wusste, wie Organtätigkeiten und Jahreszeitenqualitäten einen inneren Bezug haben: das Frühjahr mit den Aufbaukräften der Leber, der Sommer mit den Feuerkräften des Herzens, der Herbst mit denen der Lunge und der Winter mit der Energiespeicherung in den Nieren. Im Sinne einer Salutogenese (Gesundheitslehre) gab es differenzierte Anweisungen, um dem Geist der Jahreszeit auch in organischer Hinsicht gerecht zu werden. «Die drei Monate des Frühlings nennt man den Zeitabschnitt des Lebensbeginns und der Lebensentwicklung. Die Energie von Himmel und Erde ist bereit, sodass alles blüht und gedeiht», heißt es in Der Klassiker des Gelben Kaisers zur inneren Medizin. Das Grundbuch chinesischen Heilwissens.

«Nach dem Schlaf in der Nacht soll man früh aufstehen, im Hof herum- wandeln, das Haar lockern und sich körperlich nur gemächlich bewegen. So kann man ein gesundes Leben führen. Zu dieser Zeit soll dem Streben des Körpers nach Leben Rechnung getragen werden; man soll ihm geben statt von ihm zu nehmen, ihn belohnen statt ihn zu bestrafen. All das ist in Übereinstimmung mit der Energie des Frühlings, und das ist die Methode zum Schutz des eigenen Lebens. Diejenigen, die diesen Gesetzmäßigkeiten des Frühlings keine Rechnung tragen, werden durch die Beeinträchtigung der Leber bestraft, und im darauffolgenden Sommer wird man von einer Kältekrankheit heimgesucht.»
Was uns der Jahreskreislauf mit seinen Energien bietet, wenn wir nur eine seelische Selbstbeobachtung pflegen, das gilt selbstverständlich auch für den Ablauf des Tages, der uns mit seinen unterschiedlichen Morgen-, Mittags- und Abendkräften nicht mehr bewusst ist, da wir zu vielen künstlichen Ablenkungen unterliegen. Ähnlich wie uns der beginnende Herbst mit seinen kühlen Nächten und langsam sich verfärbendem Laub dazu inspirierten kann, wieder ein Gedichtband oder ein Philosophiebuch hervorzuholen, so können wir erleben, wie anders unser Gemüt am Abend oder in den Morgenstunden gestimmt ist. Ich kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen: Bestimmte geisteswissenschaftliche oder philosophische Themen kann ich nur morgens und meist nur bis 12 Uhr bearbeiten, dann möchte ich nach dem Essen spazieren gehen und reflektieren. Erst abends oder nachts kann ich mich meinen Fantasieprodukten oder Erzählungen widmen. Diese Erfahrung bestätigt auch die geisteswissenschaft­liche Forschung an unserem «Lebensleib», der in der esoterischen Tradition «Ätherleib» genannt wird und in genau festgelegten Tagesrhythmen lebt. Durch ihn sind wir überhaupt erst imstande, Zeit, d.h. Veränderungen, wahrnehmen zu können.
So gibt es tatsächlich ein objektives Zeitgeschehen in unserer Seele, in dem die Lebenskräfte am Vormittag mehr den Kopf anregen, die Vernunft und auch die klare Urteilstätigkeit – eine ideale Zeit also für eine analytische oder erkenntnistheoretische Arbeit. Gegen Mittag sind wir mehr in den Gliedmaßen und damit in den Willenskräften tätig – Zeit, in der wir uns eigentlich handwerklich am besten betätigen können. Erst abends regen sich mehr die produktiven Fantasiekräfte und damit unser Gemüt. Auch wenn es in dieser Beziehung sicherlich individuelle Varianten gibt, so speisen doch objektive geistige Energien in differenzierter Weise unsere Lebens- und Seelenkräfte! Die Erfahrungen mit Patienten in einer Drogenklinik, mit denen dieser Rhythmus ausprobiert wurde, konnten dem ganzen Tag eine hygienisch-gesunde Struktur vermitteln. Auch Arbeitskreise und Vorträge, die aus den genannten Gründen abends anders strukturiert sein müssen als morgens, profitieren von dieser Tatsache. Die Anwendung des richtigen Rhythmus im Alltag gibt tatsächlich Leben und Kraft!
Durch diese Erfahrung bekommt man einen bescheidenen Eindruck von der Konkretheit der in der Welt wirkenden Geister der Zeiten und Gezeiten, wie sie unser Dasein bestimmen und wie sie, wenn sie erkannt und praktiziert werden, heilend in die Disharmonien und die Chaotisierung unseres Lebens eingreifen können, wenn wir uns nur darauf einlassen, unsere Zeit nicht zu verschleudern.