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Christel Mouchard

Devi. Die Rebellin mit den sanften Augen

Nr 164 | August 2013

gelesen von Simone Lambert

Weil sie heimlich die Hochzeit seiner Tochter beobachtet haben, zwingt der Thakur (eine Art Feudalherr) die Schwestern Shalini und Devi zu schwerer, ekelerregender Arbeit: sie müssen die Latrinen seines Palastes säubern. Eine gängige Praxis der Demütigung in diesem Dorf im Indien der achtziger Jahre.
Das Kastenwesen beherrscht das soziale Leben. Shalini und Devi sind «Mallahs», Angehörige einer niederen Kaste, bitter arm und ungebildet. Mit Devi schildert die Autorin ein wildes Mädchen mit einem starken, verletzten Gerechtigkeitsempfinden. Sie hat den Mann, mit dem sie elfjährig verheiratet wurde, verlassen und kehrte zu ihrer Familie zurück. Warum sie aus ihrer viel zu frühen Ehe floh, kann nur der erwachsene Leser ahnen. Danach ist sie schutzlos den Anfeindungen im Dorf ausgesetzt. Sie wird öffentlich als Hure beschimpft und geächtet.
Nach der Strafe des Thakur Babu fasst Devi den Entschluss, ihre Familie und ihr Dorf zu verlassen, um ihre Schwester und die Eltern vor Hohn und Verachtung zu schützen. Allein begibt sich die Fünfzehnjährige ins Ungewisse und begegnet dem Banditen Vikram, dem ersten Menschen, der ihr Respekt erweist. Devi wird von Vikrams Bande aufgenommen und begreift sofort, dass ihr mit dieser neuen Rolle Macht zuwächst. Sie will Rache nehmen.
Jetzt beginnt ein ungewöhnliches Leben, an dem schließlich ganz Indien teilnimmt. Devi wird Bandenchefin. Jahrelang versetzen die Racheakte der Ausgestoßenen die Thakurs der Umgebung in Furcht; ihre Räubereien und erpresserischen Entführungen machen sie zu einer berühmt-berüchtigten und vielgejagten Kriminellen. Doch die Armen, denen sie Wohltaten erweist, verehren sie als Inkarnation der zornigen Göttin Durga. Selbst die Dörflinge, die sie einst bespien, bewundern sie jetzt als Heldin. Devi selbst gefällt es, als Banditenkönigin zur Legende zu werden und sie ist bereit, dafür jung zu sterben. Verbohrt in ihre Rachegedanken und verroht durch ihr hartes Leben, erkennt der Leser das Ausmaß ihrer Verletztheit, aber auch ihrer Unwissenheit. Ausgerechnet Singh, ein junger Polizist, versteht sie: «Sie ist ein wildes Tier … gefangen zwischen Neugierde und Angst.» Im Regierungsauftrag bietet er allen Beteiligten einen Weg aus dem Konflikt an: ehrenvolle Kapitulation. Devi und ihrer Bande wird eine beschränkte Haftstrafe garantiert, dafür sollen neue Gesetze die Rechte der niederen Kasten schützen. Wird Devi darauf ein­gehen?
Die französische Autorin hat sich das Schicksal der indischen Banditenkönigin Phoolan Devi (1963 – 2001) vorgenommen. Allerdings war Phoolans wahres Leben ungleich brutaler als hier geschildert – sowohl was ihr an Gewalt widerfuhr, als auch die von ihr mutmaßlich begangenen Taten sprengen den Rahmen dessen, was in einem Jugendbuch beschreibbar ist. Die Frauenverachtung, unter der die indische Gesellschaft bis heute leidet, wird in dieser Geschichte nur marginal thematisiert. Mouchard verlegt den zentralen Konflikt in Devi und modernisiert ihn, indem sie ihr als Frau und als Rechtloser Verantwortung zuerkennt, statt allein die Verhältnisse für die haltlose Situation verantwortlich zu machen. Erst damit erhält jene, die gegen jede Autorität rebelliert, die Macht über ihr Leben. – Ein spannender und berührender Entwicklungsroman vor exotischem Hintergrund.

Wie kann eine Ausgestoßene, die gegen jede Autorität rebelliert, die Macht über ihr eigenes Leben gewinnen?