Titelbild Hochformat

Gunhild Daecke

Ein Pionier wird 10 Jahre alt

Nr 165 | September 2013

Es war genau zwei Jahre nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center. Für einen Moment schien die Welt still zu stehen, als die Freie Interkulturelle Waldorfschule Mannheim am 11. September 2003 ihre Arbeit in einem alten Möbelgeschäft aufnahm. Während die Welt auf Amerika schaute, passierte in Mannheim etwas, das auf andere Weise die Herzen berührte: 36 Kinder aus unterschiedlichen Kulturen hatten ihren ersten Tag an einer Schule, die zum Symbol für ein friedliches Miteinander und zu einem Zeichen gelungener Integration geworden ist.
Die Freie Interkulturelle Waldorfschule Mannheim hat sich zum Ziel gesetzt, Lebens- und Begegnungsräume zwischen Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft, Nationalität und Religion zu schaffen. Doch die Gründung der Schule in einem Stadtteil, in dem große sprachliche und soziale Integrationsprobleme herrschen, galt als eine gewagte Initiative. So richtig glauben wollte niemand, dass es der Schule tatsächlich gelingen würde, sich an diesem Standort zu halten – groß waren die pädagogischen, sozialen und finanziellen Herausforderungen. Es ist dem Willen und der Flexibilität des internationalen Schulkollegiums, dem Vertrauen von privaten Stiftungen und der Würdigung durch die Kommunal­politik zu verdanken, dass sich die Ganztags- und Gesamtschule mit ihrem modellhaften Charakter zu einer namenhaften Bildungs­einrichtung mit einer großen Signalwirkung über die Landes­grenzen hinaus entwickelt hat.
Inzwischen lernen hier knapp 300 SchülerInnen aus über 33 Herkunftsländern aus allen sozialen Schichten und mit unterschiedlichen Begabungsprofilen in 12 Klassen miteinander. Über die Hälfte der Kinder und Jugendlichen an der Schule stammen aus Einwandererfamilien. Multikulturalität wird hier nicht als Manko betrachtet, sondern als Chance und Bereicherung. Jede Gelegenheit wird genutzt, die kulturelle Vielfalt zu feiern. Die ersten Haupt-, Realschul- und Fachhochschüler haben inzwischen die Schule abgeschlossen – und diese damit gezeigt, dass sie nicht zu viel versprochen hat. Die Schule ist ihrem Credo gefolgt, dass kein Kind verloren gehen darf. Die Pädagogen setzen auf Förderung aller Kinder und Jugendlichen statt auf Auslese. Es gibt kein Sitzenbleiben, keine Differenzierung in verschiedene Bildungs­gänge, sondern einen allgemeinen, handlungsorientierten, künst­lerisch-praktischen Lehrplan. Das Kollegium hat dabei alle Hände voll zu tun, denn neben dem Unterricht müssen Konzepte
(weiter-)entwickelt werden: ein gezieltes Angebot für die Vertiefung der deutschen Sprache, eine stärkere Ausprägung der Verzahnung von schulischem und außerschulischem Lernen, gezielte Förder­angebote und das Abitur. Das unermüdliche Engagement der Schule und das Ringen um Antworten auf gesellschaftliche Fragen wurde in diesem Jahr von der Deutschen UNESCO-Kommission mit einer Auszeichnung als vorbildliches Beispiel für zukunftsfähige Bildung gewürdigt.
Die Schule, die am 11. September ihren 10. Geburtstag feiert, gilt mit ihrem interkulturellen und sozial-integrativen Konzept als Pionier­schule europaweit. In Dortmund, Hamburg, Stuttgart und Berlin bestehen Gründungsinitiativen nach dem Mannheimer Vor­bild. Viele Bundes- und Landespolitiker haben die Schule besucht, um zu erfahren, wie neue pädagogische Wege beschritten werden.
Nie ruht die Frage, woher das Geld kommen soll. Viele Eltern, die sozial schwächer gestellt sind, können keine oder nur sehr geringe Beiträge entrichten. Die Schule ist auf die Hilfe aus Politik und Gesellschaft angewiesen, um nachhaltig ihren Grundsatz verwirklichen zu können, allen Kindern und Jugendlichen eine ganzheitliche Bildung zu ermöglichen, ungeachtet ihrer Herkunft.