Birte Müller

Hirnis, Kloppis und Behindis

Nr 166 | Oktober 2013

Neulich in einer Schullesung mit einer dritten Klasse, hatte ich ein interessantes Erlebnis im Zusammenhang mit dem Wort «behindert». Ein Junge meldete sich aufgeregt, zeigte auf einen anderen und rief laut: «Memet hat gesagt, deine Sohn is’ behindert!» Ich war irritiert und antwortete: «Ja, das ist er doch auch.» Der Junge sprang empört auf und rief wild mit den Händen gestikulierend: «Wie kannsu du das sagen, über deine eigene Sohn?» Ich musste lachen, so skurril war das. Aber im Prinzip ist es natürlich traurig, dass einige Kinder das Wort «behindert» nur noch als Schimpfwort kennen.
Doch selbst unter Erwachsenen (sogar unter professionellen) scheint der Ausdruck nicht wertfrei zu sein. In Willis Kindergarten gab es einmal eine Reise. Ich fragte die Kindergartenleiterin, wie viele behinderte Kinder mit dabei wären. Die Frau rief empört, dass man das nicht so sagen könne, denn alle Kinder hätten doch ihre Talente bla, bla, bla. Mir muss man das doch wirklich nicht erzählen, ich hab doch meinen Willi, der mir das zeigt! Der politisch korrekte Redeschwall (in dem mehrfach die kryptische Bezeichnung «Kinder der Wiedereingliederungshilfe» vorkam) wurde irgendwann unterbrochen von der anderen Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom, indem sie zu mir sagte: «Es sind fünf.»
Menschen, die mit geistig Behinderten eng zusammenarbeiten, haben meines Wissens sonst einen unkonventionellen und meist eher höchst entspannten Umgang mit der Bezeichnung ihrer «Klienten». Aber wahrscheinlich arbeitet man als Leitung eines Kindergartens auch gar nicht so eng mit den «Kindern der Wiedereingliederungshilfe» zusammen. Mich hat es auf jeden Fall fast beleidigt, dieses Herumgeeiere um das Wort behindert. Ist «Behindertsein» so schlimm, dass man das nicht aussprechen darf – oder was?
Dann war ich zufällig Zeuge, wie ein flüchtiger Bekannter einen Anruf bekam. Danach wirkte er sehr niedergeschlagen. Auf Nachfrage erzählte er, er habe eben gehört, dass einer der (und hier stockte er beim Sprechen und schaute mich unsicher an) Bewohner des Wohnheims, in dem er Zivildienst geleistet hatte, im Sterben lag. Offensichtlich hatte eine ganze Gruppe von Zivis über die Jahre den Kontakt zu den Bewohnern gehalten. Später fragte ich ihn, wie sie untereinander denn wirklich die Behinderten nennen würden, denn mir war klar, dass er sich aus Rücksicht mir gegenüber beim Sprechen zusammengerissen hatte. Etwas verschämt gab er zu, dass sie zu ihnen immer «Kloppis» sagten.
Klar darf man «Kloppi» nicht sagen, aber wer von Herzen liebevoll mit anderen Menschen umgeht, der kann doch am Ende fast alles sagen – oder? Es gibt ganz sicher eine Reihe solcher internen Bezeichnungen, die eigentlich gar nicht gehen. Bei meinem Bruder sprachen sie beim Zivildienst liebevoll von ihren «Behindis».
Es ist der respektvolle Umgang mit Menschen, auf den es für mich ankommt. Und da die meisten Betreuer, die das beherrschen, auch mit den Eltern respektvoll umgehen, wissen wir auch gar nicht, was da in Willis Ferienfreizeit alles so über die Bekloppten gesagt wird. Aber ich möchte betonen, dass solche Begriffe einzig und allein für den persönlichen Bereich und lediglich für die­jenigen reserviert sind, die WIRKLICH behinderten Menschen SEHR nahestehen und nicht für solche, die durch betont lässige Aus­drücke ihre Wunder wie tolle Entspanntheit beim Thema Be­hinderung zur Schau stellen wollen!
Vielleicht spricht ja auch die Leiterin von Willis ehemaligem Kindergarten intern über ihre kleinen «Hirnis», ich bezweifle das sehr, aber es würde sie mir deutlich sympathischer machen.