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Inga Moore

Vier Freunde bauen sich ein Haus

Nr 166 | Oktober 2013

gelesen von Simone Lambert

Im englischen Kinderbuch haben Tiere eine besondere Tradition: Pu der Bär, Maulwurf, Dachs, Kröterich und Ratte aus Der Wind in den Weiden, Beatrix Potters Häschen – alle diese Charaktere bewegen sich in einer arkadischen Landschaft, mit der die Tiere eng verbunden sind. Auch in Vier Freunde bauen sich ein Haus von Inga Moore ist das so.
Die Geschichte ist schnell erzählt. Zwei kleine Schweinchen bauen sich im Wald gemütliche Unterkünfte aus Zweigen. Von einem Ausflug zurückgekehrt, finden sie den Bären und den Elch in ihren fragilen Behausungen, die bei den geringsten Be­wegungen der Gäste in sich zusammenfallen. Auf einer Parkbank unter einer Laterne sitzend sinnieren die vier, was zu tun ist. Denn es wird Herbst und Zeit, sich einen Rückzugsort zu suchen. Das ist eine ernste Sache, nicht nur ein Kinderspiel …
Der Elch ist ein königliches Wesen mit mächtiger Geweihkrone und von dandyhafter Eleganz: Mit langen Gliedern und schlak­sigen Bewegungen verleiht er dem Geschehen Schönheit und jenen luxuriösen Unernst, der Grundlage für wahre Kreativität ist. Er hat den Einfall, ein Haus für alle vier zu bauen – und zwar mit Hilfe eines «ganz besonderen Tiers»: Die Biber kommen sofort in Lastautos angerollt und beginnen mit der Arbeit. Zwei Wochen sind avisiert, doch die Geschichte erzählt diesen Zeit­raum wie einen einzigen Tag, denn, so die Biber, «Ihr braucht das Haus schnell, da ist Eile geboten».
Die flotten Biber fällen Bäume – und im Nu verwandeln sie den Wald in einen professionellen Bauplatz mit Schubkarre, Beton­mischer und Werkbank. Selbstverständlich wird für alle gekocht und gemeinsam gegessen. Bär und Elch fahren auf offenen Last­wagen das Mobiliar heran. Kurz vor Ladenschluss kaufen sie noch ein: die Erdnussbutterbrote für das Abendessen – der vereinbarte Lohn für die Biber!
In dieser märchenhaften Geschichte gibt es keine Hindernisse, keinen Zweifel und keinen Mangel: weder an Geld noch an Nahrung, weder an Wissen noch an Erfahrung, weder an Freundschaft noch an «Hüsung» (wie es bei Fritz Reuter heißt). Und so geht nicht nur alles gut, sondern die vier Obdach Suchenden finden sich auch als Familie.

Inga Moores Stärke ist es, Natur in ihrer spirituellen Erneu­er­ungs­kraft ins Bild zu setzen. Den beginnenden Herbst hat sie genial eingefangen: ein kräftiger Wald mit leuchtenden Blättern ist in das weiche, kühle, auflösende Licht des Nebels gehüllt. Noch scheint die Sonne, aber die Atmosphäre verkündet die nahende Kälte! Mit verschiedenen Texturen und Techniken erzeugt Moore eine Fülle an Details und wechselndem Licht. Ihr Realismus porträtiert die Landschaften dennoch einladend und warm. Die Bäume sind ausdrucksstark wie Individuen und ihre Tiere mit Empathie angefüllt und sensibel wiedergegeben. Mit einem intuitiven Verständnis der tierischen Anatomie weiß die Künstlerin ihnen menschliche Charakteristiken anzupassen, ohne die Tiere zu sentimentalisieren oder sie lächerlich zu machen. Sie wissen sich auszudrücken, physisch wie sprachlich, sie haben Würde.
Liebevoll und mit Schönheit und Sinn für Behaglichkeit wird hier eine ewige Wahrheit gezeichnet, wie Rilke sie im Gedicht vom Herbsttag melancholisch besingt: «… Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.» Aber wer eines hat, lebt in Schutz und Freuden.