Maria A. Kafitz

Lettische Lieder

Nr 169 | Januar 2014

Das Ankommen in einer Stadt ist kein unentscheidender Moment. Das Wie-Hinkommen manchmal auch ein entscheidender. Mal schwebt man im Flugzeug vom Himmel. Mal rattert man mit der Bahn heran oder staut sich im Auto hinein.
Und manchmal nimmt man einen jener Busse, die sich auch auf deutschen Straßen – ob sinnig oder unsinnig – den Weg zurück­erobert haben, und konnte damit kein besseres Verkehrsmittel zum Hin- und Ankommen wählen!
Meine erste Reise vor einem Jahr nach Riga ließ mich aus dem Mangel an Alternativen einen dieser Überlandbusse nehmen, da ich von Estland aus nach Lettland fuhr – mit der Bahn ein immer noch sehr zeitintensives Unterfangen, das laut Auskunft im Grenzstädtchen Valga unter Umständen zum Anschlusszug auch noch einen kleinen spätabendlichen Fußmarsch beinhaltet hätte. Abenteuerlust hin oder her – ich wollte keine überlange Anreisezeit, ich wollte Zeit für diese Stadt, die 2014 zusammen mit dem nordschwedischen Umeå europäische Kulturhauptstadt ist.
Dass ich dennoch zumindest etwas Abenteuerlust und zudem Vertrauen und Geduld brauchen würde, zeigte sich schon am übervollen Busbahnhof von Tallinn.
In einer Zeitung las ich einmal, dass beim öffentlichen Verkehr Japaner nach weniger als einer Minute, Schweizer «erst» ab zwei Minuten, Deutsche ab rund fünf Minuten und Italiener nach mindestens zwanzig Minuten von einer «Verspätung» sprechen. Dieser Artikel kam mir wieder in den Sinn, als ich zwischen all den Taschen, Tüten, Koffern, Kartons, Boxen und dem Allerlei stand, das sich in einem Bus so transportieren lässt, und die Esten, Letten und Russen die um fast drei Stunden ver­zögerte Abfahrtszeit nicht wirklich beunruhigend fanden. Zumindest kam unter ihnen keine Unruhe auf. Man aß und trank, rauchte und redete und wartete – unbeweglich, unbeeindruckt.
Nur ein paar Touristen, die ständig im Wechsel auf die Uhr und ihr Gepäck und wieder auf die Uhr schauten, rannten mehrfach zum Ticketschalter in der grauen Blechbaracke, um dort zwar ein «Lächeln», aber keine wirkliche Auskunft zu erhalten.

Ob der Bus, der dann kam und uns in Windeseile oder vielmehr ruppigem Eilkommandotempo alle aufnahm, ein Ersatzbus war, werde ich nie erfahren. Es ist auch gleich, denn er und seine «Stewardess» – ja, so heißen auch die Damen, die für Wohl und Wehe während der Busreise zuständig sind – schenkten mir ein kostenloses baltisches Schauspiel: Auf kleinen Bildschirmen lief ein Sicherheits- und Werbefilm in estnischer, lettischer, russischer und englischähnlicher Sprache. Eine hübsche Blondine in hochhackigen Schuhen und kurzem Röckchen, deren Gepäck sorgfältig verstaut und sie an ihren Platz gebracht wurde, räkelte sich bequem auf dem Sitz, stellte ihn in die gewünschte Position ein, legte den Sicher­heitsgurt an, blätterte die Menükarte durch und klingelte nach der Stewardess. Warme Getränke und ein kleiner Snack wurden serviert, auf die technische Versorgung mit Strom für den Laptop und auf die saubere Toilette für die «kleinen Bedürfnisse» während der Fahrt verwiesen. Fast war ich bereit, all dies zu glauben. Beim Verstauen des Gepäcks (nach keinem erkennbaren System flog es in den Lade­raum, was da nicht mehr hinpasste, musste eben um den Sitzplatz gestapelt werden) und beim Ton der Stewardess (mürrischer Blick und zwei Worte: «Ticket? Passport!») hatte ich jedoch erste «Abweichungen» bemerkt. Dass es nur an manchen Sitzen überhaupt Gurte gab, nahm ich mit «ungefesselter» Gelassenheit hin, dass sich der Sitz überhaupt nicht bewegen ließ auch. Als ein japanischer Mitreisender verzweifelt versuchte, Strom für seinen Laptop zu be­kommen und auf die ängstliche Nachfrage als Ant­wort nur ein unmissverständliches «broken» erhielt, war klar: Getränke und Snacks – «no». Toilette – «broken». Die Durchsage bei den Zwischen­stopps: «No out. Sit!», ließ mich kurz zusammenzucken. Die andere Durchsage: «No alcohol!», wiederum beruhigt aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden, schier endlos wirkenden Birken­wälder blicken.
In den fast viereinhalb Stunden Fahrzeit herrschte im Bus jene Stimmung, die schon an der Station spürbar war: Die kratzbürstige Schroffheit der russischen Stewardess wurde mit Gleichmut entschärft, das Fehlen jeglicher «Luxuszusätze» unverwundert hinwegimprovisiert, denn fast jeder hatte Verköstigungen aller Art dabei. Auch reichlich Alkohol, aber der floss erst nach der Ankunft, als die Koffer und Kisten wieder den Bauch des Busses verließen und im Gedränge irgendwie ihren Besitzer wiederfanden. Wer schon einmal in Asien oder Afrika mit dem Bus unterwegs war, wird milde und gelassen über all das schmunzeln. Wer es nicht war, konnte es nun lernen und bekam zudem eine Lektion über den Alltag und die jüngere Geschichte des Baltikums gratis zum günstigen Fahrpreis von umgerechnet 11,– Euro dazu.

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Fotos: © Sebastian Hoch

Nach ohnehin bewegter Geschichte, an der auch mal wieder Deutschland seinen prägenden, selten unschuldigen Anteil hatte, wurden Estland, Lettland und Litauen von 1944 bis 1990 von der damaligen Sowjetunion okkupiert, größtenteils gegen den Willen der Bevölkerung in das restriktive sowjetische System integriert und durch eine exzessiv betriebene Ansiedlungspolitik zur ausgegrenzten Minderheit im eigenen Land – gesellschaftlich, kulturell und wirtschaftlich. Dass sie sich nach fast fünfzig Jahren Unfreiheit befreien konnten und nun selbstbewusste Mitglieder der Europäischen Union sind, gehört zu den «kleinen Wundern» der jüngeren Geschichte, von denen auch Deutschland ein freudiges Lied anstimmen kann. Der Beginn der wiedererlangten baltischen Freiheit wird meist auf den 23. August 1989 datiert, als zwei Millionen Menschen die «Baltische Kette» über eine Länge von 600 Kilometer von Tallinn über Riga nach Vilnius bildeten, um für die Unabhängigkeit ihrer Staaten zu demonstrieren. Der Weg dahin war kein einfacher, aber er ist gelungen. Nicht ohne Wunden. Leider auch nicht ohne «Wiederholungsschwächen»: Nun sind die Russen jene meist ausgegrenzte Minderheit (sie stellen noch rund 30 Prozent der Bevölkerung) – gesellschaftlich, kulturell und wirtschaftlich.
Bei der Einfahrt nach Riga kommt beim Anblick der ewig gleichen, monoton starrenden Betonblöcke wieder einmal eine meiner Warum-Fragen auf: Warum wollte die «sozialistische Architektur» (und heute malträtieren uns viele völlig unpolitische Architekten immer noch damit) durch zweckmäßige Hässlichkeit statt durch durchdachte Schönheit glänzen?
Etwas erschlagen von so viel «Platte» übersehe ich beinahe die eigentlich unübersehbaren Bögen der Markthallen, die dem trostlosen Busbahnhof gegenüber liegen, und wäre so fast um ein herrliches und zugleich köstliches Erlebnis ärmer geblieben. In der ehemals weltgrößten Zeppelin-Werft der kaiserlich deutschen Armee eröffnete am 2. November 1930 ein wahres Schlaraffenland, das 1998 in die Liste des UNESCO Weltkulturerbes aufgenommen wurde. Kein musealer Einkaufstempel, keine Schickimicki-Genießermeile erwartet einen dort, sondern alltägliches, vielfältiges, pralles Lebensmittelleben. Und dieser Ort, an dem nicht nur Essen, sondern irgendwie alles, was man zum Leben und Überleben braucht, feilgeboten wird, ist zudem eine der wenigen «Oasen», in denen der russische Bevölkerungsteil neben den lettischen Auszeichnungen auch noch sein kyrillisches Pendant wiederfindet. Wie es einem wohl selbst erginge, wenn plötzlich die lesbaren Zeichen verschwinden? Wenn nicht nur die Sprache, sondern auch die Schrift fremd ist?
In Lettland haben im Wechsel beide Seiten damit ihre Erfahrungen gemacht. Daran gelitten. Ich stehe fragend da, stehe vor doppelt fremden Zeichen und staune.

Ein anderes Staunen überkommt mich nur wenige Gehminuten entfernt vom Großmarkt, den sie «den Bauch der Stadt» nennen, in Rigas Altstadt: restaurierte, mittelalterliche, hanseatische Pracht. Vom Fluss Daugava auf der einen, von den Befestigungsanlagen des ehemaligen Schlosses (heute Präsidentensitz und Heimat dreier Museen) und den sich anschließenden Parks auf der anderen Seite begrenzt, geht man über abertausende Kopfsteinpflastersteinchen wie durch ein Freilichtmuseum ohne Eintrittskarte und Berührungsverbot. Denn herausgeputzt haben sie ihre Altstadt – lebendig und altersübergreifend bevölkert ist sie trotzdem geblieben. Dass sich um den Domplatz (der Back­steindom selbst ist die größte Kirche des Baltikums, die meist kostenlosen Orgelkonzerte ein klang­licher Hochgenuss), das rundumverzierte Schwarzhäupterhaus (ursprünglich Treffpunkt und Feierstätte der lettischen Kaufmannszunft – nur Unverheiratete bekamen Zutritt!) oder die Petrikirche (heute Ausstellungs­ort für zeitgenössische Kunst und Aussichtsplattform mit Rundblick über die Altstadt) die Touristen manchmal auf die Füße treten und im Weg stehen statt hinzusehen, kann man bejammern oder als Zusatzchance für diese Stadt sehen. Als wirtschaftliche Möglichkeit, die sie sinnvoll nutzen und hoffentlich nicht ausnutzen.
Meine Augen waren irgendwann fast blind von all den sehenswerten Fassaden, den herrschaftlichen Fronten, meine Beine müde vom Kopfsteinpflasterholpergang durch all die kleinen Gassen. Sehpause. Kaffeepause. Hierfür ist der altstadtzentrale Livenplatz ein idealer Ort, besonders dann, wenn man nicht die nebenein­ander aufgereihten Kaffees und Kneipen besucht, sondern den kleinen, fast un­schein­­baren Pavillon, in dem sich die Konditoreja Kardamons befindet. Wer hier einen Sitzplatz ergattert, wird zudem gleich mehrfach beschenkt: kulinarisch, optisch und klanglich. So klein ihr Äußeres ist, so gehaltvoll und köstlich ist das, was dort herausge­tragen und serviert wird. Dahinter, bei günstiger Platz­wahl einseh- und beobachtbar, befindet sich eine kleine Freilicht­galerie entlang einer Mauer, die weniger durch ihre Kunstwerke als ihre Verkäufer besticht. Scheinbar desinteressiert auf einer Liege schlummernd, werden die meist überlässig aussehenden Gesellen zu wortreichen Über­redungs­künstlern, wenn ein Passant den Schritt vor einem der Bilder verlangsamt. Bleibt er gar stehen, ist es meist um ihn geschehen.

Maßlosigkeit ist manchmal (m)ein Glück, denn beim dritten köst­lichen Kaffee werde ich hellhörig: jemand musiziert, jemand singt in der Nähe. Schon im Bus war mir dieses Singen begegnet, als zwei Mitreisende kurz nach der lettischen Grenze ein Lied anstimmten. Was ich als weitere Kauzigkeit der Anreise abtat, wovor ich noch die Ohren verschloss, kehrte nun auf Rigas Straßen als vielstimmiger Kanon, als klingendes Echo überall wieder. «Es gibt mehr Volks­lieder als es Letten gibt», das wusste schon Johann Gottfried Herder, der von 1764 bis 1769 in Riga lebte und einige dieser «Dainas» genannten Lieder sammelte. Das wirklich Wunderbare aber ist, dass sie keine bloße nostalgische Erinnerung, sondern gelebte, generationsübergreifende Klanggegenwart sind. Es muss ein Traum sein, wenn beim großen Sänger- und Tanzfest, das alle fünf Jahre gefeiert wird, rund 30.000 Menschen singend ihre Stimmen erheben.
Mein architektonischer Traum beginnt jenseits der schmucken Alts­tadt rund um die Alberta und Elisabetes iela, jener Prunkstraßen, in denen sich im ausgehenden 19. Jahrhundert die Jugendstil­architektur auf besonders extravagante Weise entfaltete. Eine Form­sinfonie origineller Ornamente, mythologischer Figuren­arrange­ments, dramatischer Säulenfenster und den Himmel erstürmender Tierensembles ziehen sich entlang der Straßen und dabei den Blick in die Höhe.
Viele Häuserzüge, heute meist wieder kunstvoll restauriert, wurden vom Architekten Michail Eisenstein geplant, der aufgrund seines dekorativen Stils auch der «verrückte Konditor» genannt wurde. Diese Art sich immer wieder neu erfindender Ver­rückt­heit aber hat Riga nicht nur architektonisch be­rühmt gemacht. Gäbe man sie wieder dem Vergessen, dem Verfall preis – auch das ist in den Nebenstraßen immer noch schmerzlich wahrnehm­bare Ruinenrealität und Lebenswirklichkeit vieler Bevölkerungs­teile –, dann müssten Trauergesänge angestimmt werden.
«Ich könnte manchmal vor Glück eine ganze Allee von Purzelbäumen schlagen» – diesem Satz des Komikers und Dichters Heinz Ehrhard möchte ich beim Besuch seiner Heimat­stadt Riga fast Taten folgen lassen. Ich habe aber Respekt vor den körperlichen Folgen und summe lieber leise und wünschte, eines der lettischen Lieder zu können …